| # taz.de -- Die Wahrheit: Scheu und abgezweigelt | |
| > Ein harmloser Wein aus der Pfalz. Doch hinter der Weißweinsorte gibt es | |
| > ein Geschichte, die tief in die Nazi-Zeit führt. | |
| Der Winzer aus der Pfalz tourt jedes Jahr im Frühling und im Herbst durch | |
| die norddeutsche Tiefebene. Üblicherweise bestelle ich bei ihm auch zwölf | |
| Flaschen Scheurebe, „feinherb“, nicht „trocken“. Doch als ob ich’s ge… | |
| hätte, ließ ich es nun bleiben. Vorigen Freitag stieß ich auf die | |
| Geschichte dieser Weißweinsorte, die in den fünfziger Jahren entnazifiziert | |
| wurde. Und andererseits auch doch nicht. | |
| Fakten und Zahlen? Bitte sehr: Georg Scheu (1879 – 1949) war der erste | |
| Leiter einer Landes-Rebenzuchtanstalt in Alzey, gilt als „Wegbereiter für | |
| den modernen und qualitätsorientierten Weinbau“ und als der „erfolgreichste | |
| Rebzüchter“ in Deutschland. Er züchtete und züchtete, als erstes 1916 eine | |
| Kreuzung aus Riesling und der Bukettraube, die er zunächst „Sämling 88“ | |
| nannte. | |
| Scheu, seit Mai 1933 NSDAP-Mitglied, änderte mutmaßlich eilfertig den | |
| Namen. Die Sorte hieß nun „Dr. Wagner-Rebe“ zu Ehren seines | |
| Dienstvorgesetzten in Hessen-Nassau, „Landesbauernführer“ Richard Wagner. | |
| Ein aktueller Weinmagazin-Artikel zitiert Wagner, der seinen | |
| Weinbauinspektor später als „aufrecht, offen, aufopfernd im Dienst des | |
| rheinhessischen Weinbaus“ beurteilt habe und als „politisch unbedingt | |
| zuverlässig“. | |
| Wenige Jahre nach dem Ende des „Tausendjährigen Reichs“ wechselte das | |
| Etikett wiederum, lautete schließlich „Scheurebe“, also wieder irgendwie | |
| mit der Nazi-Zeit verbunden. Scheu war im Zweifelsfall ein Mitläufer, | |
| Idealist oder Gegner, wie eigentlich alle außer Hitler, Goeb-bels und | |
| Himmler. Dennoch, wenn man so will, haben sie den Teufel mit dem Beelzebub | |
| ausgetrieben. Insofern widerspreche ich denen, die von der Entnazifizierung | |
| der Rebsorte reden, gern auch als lustiges Nebenbei. Das nächste Nebenbei: | |
| In Österreich heißt die Sorte unverdrossen „Sämling 88“, wie im Anfang. | |
| Aber egal, ich brabbele hier vielleicht, statt noch schnell zu berichten, | |
| dass Georg Scheu zudem ein Fall aus der Irrtumsforschung wurde, freilich | |
| nicht ganz so bizarr aus heutiger Sicht wie Christoph Kolumbus, der dachte, | |
| er sei in Indien gelandet. Scheu notierte im „Zuchtbuch“, er habe Riesling | |
| und Silvaner gekreuzt. Hatte er jedoch nicht, sondern sich einen | |
| handwerklichen Fehler geleistet. DNA-Analysen im Jahr 2012 entschlüsselten, | |
| dass die Bukettrebe der Elternteil ist. | |
| Ach ja, fast vergessen, wir wollten auf Österreich zurückspringen. „Blauer | |
| Zweigelt“, die weitaus bedeutendste Rotweinsorte dort, ist nach Friedrich | |
| Zweigelt benannt, einem Entomologen, Botaniker und glühenden Anhänger der | |
| Nationalsozialisten. Es scheint gerade die Künstlergruppe „Institut ohne | |
| direkte Eigenschaften“ eine Debatte auszulösen mit ihrer Aktion | |
| „Abgezweigelt“. Sie möchten, dass die Rebsorte „Blauer Montag“ lautet. | |
| Die diversen Ethikkommissionen sollten sich um all dies kümmern. Während | |
| ich bald in meinem Assoziationsraum werkeln werde zwischen Züchtung und | |
| Züchtigung, Zucht und Ordnung. Und kann ich den Müller-Thurgau bestellen? | |
| 6 May 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Dietrich zur Nedden | |
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