# taz.de -- Die Wahrheit: Mittagspause mit Weltuntergang | |
> Drei Männer unterhalten sich. Über Rechtsextremismus und andere | |
> Katastrophen. Doch wie geht man mit der Apokalypse um? | |
Bild: Menschenleer ist die Welt ja schon: Weltzeituhr in Berlin | |
Denken wir uns drei weiße Männer zwischen vierzig und sechzig aus und in | |
Mitteleuropa. Neulich saßen sie zusammen zur Mittags- und Zigarettenpause | |
in einer Kontor-Gemeinschaft am südlichen Rand der norddeutschen Tiefebene. | |
Diese Konstellation liest sich zunächst vielleicht nicht so prickelnd, doch | |
unversehens drehte sich die Plauderei um nichts Geringeres als um die | |
medial bedingten apokalyptischen Visionen, die momentan so billig zu haben | |
sind wie das Hamlet-Zitat: „Die Zeit ist aus den Fugen.“ | |
Holger A. hatte einen Spickzettel parat, und bevor er die ersten | |
Signalwörter vortrug, sagte er: „Es ist ja nicht zu bezweifeln, dass wir | |
uns angesichts der Vielzahl aktueller Katastrophen und Verbrechen in | |
Dimensionen wie im Alten Testament befinden.“ | |
Ergin B. stimmte zu: „Ja klar, die Heuschreckenplagen in Ostafrika und | |
Westasien würden ja schon dafür ausreichen. Aber nun breitet sich der Virus | |
aus, rassistische Terroranschläge nehmen zu, Überwachung, die | |
Klimanachrichten von Arktis bis Antarktis, Syrien und …“ | |
Da unterbrach ihn kurzerhand Moritz C.: „Ihr habt noch die schleichenden | |
Heimsuchungen vergessen, wie das Comeback von Friedrich Merz. Und wie | |
andererseits viele Vogelarten auf dem Land und Insekten überall | |
verschwinden.“ | |
„Und was außerdem zurückkommt“, sagte A., „sind autokratische Regierung… | |
in vielen Teilen Europas und extrem perfide Parteien wie die AfD. | |
Zombiedemokratien, wie einer meiner Söhne es nennt.“ | |
Stumm blickten die drei Männer jetzt durch die Fensterfront des | |
Konferenzzimmers in die Weite, von einem Gewerbegebiet über eine | |
Bahnstrecke, auf der gerade ein ICE aus Richtung Kassel querte, bis zum | |
etwa fünf Kilometer entfernten Fernmeldeturm, so hoch wie der Eiffelturm. | |
Nach einer Weile gab C. zu bedenken: „Wir haben versäumt, den | |
Kunststoffmüll in den Tiefen der Meere zu erwähnen, die Mikroplastikberge | |
im Allgemeinen, Feinstaub und Elektrosmog.“ B. sagte beinahe nachdenklich: | |
„Und mit all den Ereignissen verwoben weht hier seit Wochen ein heftiger, | |
pfeifender, heulender oder zerrend stürmischer Wind. Wer Wind weht, wird | |
Sturm ernten.“ | |
Nach einer weiteren Minute des Schweigens standen die drei Männer auf, um | |
zu den überhäuften Schreibtischen zu gehen, da ergriff A. unvermittelt das | |
Wort: „Ja, auch die Wetterverhältnisse spielen bei der manchmal | |
gespenstischen, alarmistischen Atmosphäre mit. Lasst uns Ror Wolf gedenken, | |
der vor ein paar Tagen verstarb. Ein Meister, dessen bekanntestes Gedicht | |
ich mir erlaube, ihm zu Ehren zu variieren.“ | |
Die zwei Büronachbarn schauten sich verdutzt an. A. deklamierte: „‚Es | |
stürmt, dann fällt der regen nieder, / dann stürmt es, regnet es und | |
schneit, / dann regnet es die ganze zeit, / es regnet und dann stürmt es | |
wieder.‘“ | |
Was aber war das Fazit dieser Mittagspause? Apokalypse? Armageddon? Es | |
hatte bestimmt etwas zu bedeuten. Aber was? | |
4 Mar 2020 | |
## AUTOREN | |
Dietrich zur Nedden | |
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