| # taz.de -- Tokio 2020 als Corona-Beschleuniger: Olympische Infektion | |
| > Seit der Olympiaverschiebung steigt in Japan die Zahl der | |
| > Corona-Infektionen rasant. Sind Risiken vernachlässigt worden, um die | |
| > Spiele zu retten? | |
| Bild: Olympia ist verschoben. Im Straßenbild sind die Spiele noch präsent | |
| Berlin taz | Eine Zeit lang sah es so aus, als wäre Japan von Corona kaum | |
| betroffen. In vielen Teilen der Welt gab es längst Ausgangssperren, da lief | |
| der Alltag im ostasiatischen Land noch recht unverändert weiter. Die Leute | |
| sollten möglichst im Homeoffice arbeiten und Schulen blieben geschlossen, | |
| die Restaurants und Bars öffneten aber weiterhin. Und diverse Sportevents | |
| waren zwar seit Februar abgesagt. Doch das größte von allen sollte dennoch | |
| stattfinden: Die Olympischen Spiele, so betonten die Organisatoren noch | |
| über Wochen, würden ganz bestimmt im Juli dieses Jahres starten. | |
| Seit aber am 24. März auf großen internationalen Druck hin „Tokyo 2020“ in | |
| den Sommer 2021 verschoben wurde, sieht auch in Japan vieles anders aus. | |
| Die Zahl bestätigter Infektionsfälle hat sich von rund 2.000 auf am Anfang | |
| der Woche über 10.000 mehr als verfünffacht. Die Zahl geschlossener | |
| Geschäfte ist in Tokio von 202 auf 3.082 gestiegen. | |
| Nur einen Tag nach der [1][Olympiaverschiebung] erklärte Tokios | |
| Gouverneurin Yuriko Koike die ersten Anordnungen zum Daheimbleiben. Anfang | |
| April rief dann Premierminister Shinzo Abe den Ausnahmezustand für die | |
| größten Metropolregionen aus. Seit letzter Woche gilt die Maßnahme für das | |
| ganze Land. Und in Japan kommen Zweifel auf. Laut einer Umfrage des | |
| öffentlichen Rundfunksenders NHK finden drei Viertel, der Ausnahmezustand | |
| hätte früher verhängt werden sollen. | |
| Man hält die Krise für verschleppt. Viele glauben, das lange Insistieren | |
| auf den Olympiaplan und die späte Reaktion auf die Gesundheitskrise hängen | |
| zusammen. Der Vorwurf: Offizielle hätten so lange am Olympiaplan | |
| festgehalten, wie dieser noch zu retten schien, und dafür Fragen der | |
| öffentlichen Gesundheit hintangestellt. | |
| Erhoben wird er auch von prominenten Personen wie Koichi Nakano. Der | |
| Politikprofessor von der Sophia-Universität in Tokio gehört zu den | |
| profiliertesten Kritikern der japanischen Regierung. Er sagt: „Politisch | |
| betrachtet ist es schwer vorstellbar, dass die beiden Dinge nichts | |
| miteinander zu tun haben. Premierminister Abe und Tokios Gouverneurin Koike | |
| wollten die Olympischen Spiele unbedingt dieses Jahr veranstalten. Es ging | |
| ihnen um Wirtschaftspolitik und ihr Ansehen in der Öffentlichkeit.“ | |
| ## Testkapazitäten nicht ausgeschöpft | |
| „Sie wollten Tokyo 2020 unbedingt retten“, so Nakano. Tatsächlich war Japan | |
| schon im Februar relativ stark vom Virus betroffen. Nachdem durch das | |
| Kreuzfahrtschiff „Diamond Princess“ auch Personen auf dem Festland | |
| infiziert waren, zählte für einige Zeit nur China noch mehr | |
| Infektionsfälle. Dass die Fallzahlen fortan in anderen Ländern | |
| explodierten, nicht aber in Japan, liegt aber kaum am entschlossenen | |
| Krisenmanagement. | |
| Das Land schöpft seine Testkapazitäten nicht aus. Während Japan bis Ende | |
| März auf kaum 30.000 Tests pro Woche kam, sind es mittlerweile rund 70.000. | |
| Zum Vergleich: Deutschland hat in der vergangenen Woche 360.000 Tests | |
| durchgeführt. Die Situation in Japan hat lange deutlich besser ausgesehen, | |
| als sie wirklich war. | |
| Auch Hitoshi Oshitani, Virologieprofessor an der Tohoku-Universität in | |
| Sendai und Mitglied des Krisenstabs der Regierung, gehörte zu den frühen | |
| Warnern. Schon im Februar hielt er die geplante Austragung von Olympia für | |
| unrealistisch. Aber er verneint, dass Japans Offizielle bis dahin bewusst | |
| Risiken vernachlässigt haben: „Es stimmt, dass wir das Ausmaß unserer Tests | |
| nicht besonders erhöht haben. Wir glauben, dass das auch nicht nötig ist“, | |
| erklärt Oshitani am Telefon. | |
| „Wir verfolgen stattdessen die Kontaktpersonen der bestätigten | |
| Infektionsfälle, um Cluster zu erkennen. In den Clustern testen wir also | |
| intensiver.“ Zwar werden dadurch Fälle übersehen, aber dieses Problem gebe | |
| es überall auf der Welt. „Von Anfang an haben wir versucht, Menschen zu | |
| retten und nicht die Olympischen Spiele.“ | |
| ## Vertrauensverlust nach Fukushima | |
| Nicht nur Koichi Nakano erkennt in der aktuellen Krise Parallelen zur | |
| Atomkatastrophe von Fukushima 2011. „Die Regierung setzte damals als | |
| Experten vor allem Atomphysiker ein, die den Menschen fälschlicherweise | |
| sagten, alles sei nicht so schlimm. Sie sprachen in Fachwörtern und | |
| arbeiten für die Ziele der Regierung. Zu deren Zielen gehörte aber, trotz | |
| allem an der Atomkraft festzuhalten.“ | |
| Für Yasuo Goto, einen emeritierten Ökonomieprofessor der Universität | |
| Fukushima, liegen die Prioritäten der Offiziellen heute ähnlich. „In | |
| Fukushima ging es um die Atomkraft. Bei Tokyo 2020 geht es der Regierung um | |
| deren Wirtschaftspolitik generell.“ Olympia sollte einen Aufschwung | |
| generieren, von der Internationalisierung japanischer Betriebe bis zu einem | |
| Tourismusboom. | |
| Hiroki Ogasawara, Soziologieprofessor an der Universität Kobe, sieht in den | |
| Olympischen Spielen zudem den Versuch, unter die Atomkatastrophe in | |
| Fukushima einen Schlussstrich zu ziehen: „Abe hat Tokyo 2020 zu den Spielen | |
| des Wiederaufbaus erklärt. Deshalb sollten in Fukushima auch Wettbewerbe | |
| stattfinden. Denn mit Olympia will er das Ende der Krise dort erklären, | |
| auch wenn immer noch Zehntausende Menschen nicht in ihre Heimat | |
| zurückkehren können, weil die Strahlung zu hoch ist.“ | |
| Dass in vielen Köpfen eine Parallele zwischen der Verschleppung der | |
| Coronakrise inmitten der Olympiavorbereitungen und Fukushima gezogen wird, | |
| sagt indes viel aus über das seit der Atomkatastrophe zerstörte Vertrauen | |
| in öffentliche Institutionen. Die Organisatoren von Olympia sind zudem | |
| nicht besonders geschickt darin, den Vorwurf der Fahrlässigkeit zu | |
| entkräften. Auf eine Anfrage ans Tokioter Organisationskomitee erhält man | |
| jedenfalls nicht den Eindruck, als wäre für die Verschiebung der | |
| Veranstaltung das oberste Kriterium die öffentliche Gesundheit gewesen. | |
| In einer Stellungnahme vom 31. März heißt es: „Während es derzeit keine | |
| Gegenden in Japan gibt, wo viele Infektionsfälle bestätigt sind, mussten | |
| weltweit viele Qualifikationsevents abgesagt werden, weil sich in vielen | |
| Ländern das Virus verbreitet hat. Einige Athleten und Nationale Olympische | |
| Komitees haben außerdem bekannt gegeben, dass sie unter den aktuellen | |
| Umständen nicht trainieren können. Und diese neue Situation hat uns große | |
| Sorgen gemacht.“ | |
| Regierungsberater Hitoshi Oshitani jedenfalls hatte schon im Januar, also | |
| zwei Monate vor der Olympiaverschiebung, vorhergesagt, dass es zu einer | |
| Pandemie kommen würde. Nun gelte es, die Schäden möglichst gering zu | |
| halten. | |
| Aber lässt sich ein [2][Olympiastart im Juli 2021], wie nun vorgesehen, | |
| überhaupt planen? Noch ehe die Frage ausgesprochen ist, unterbricht | |
| Oshitani: „Kein Kommentar. Das hängt noch von zu vielen Dingen ab.“ | |
| 20 Apr 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Felix Lill | |
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