Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Olympischer Sport in der Coronapause: Vortasten in den dunklen Raum
> Bis Olympia 2021 wird sich auch der Leistungszenit der Athletinnen und
> Athleten verschoben haben. Gedanken eines ehemaligen Spitzensportlers.
Bild: Gibt eben auch Fehlversuche: Hochspringer Mateusz Przybylko bei der WM 20…
Für den Spitzensportler ist die Ressource Zeit ein besonders knapp
bemessenes Gut. Die Jahre, die ihm zur Ausübung seiner Passion zur
Verfügung stehen, scheinen oft seltsam komprimiert. Für jeden hat die Zeit
einen ganz eigenen Wert, der sich vielleicht auch daran misst, wie man etwa
jetzt durch die Coronapandemie mit dem weitgehenden Verlust eines Jahres
aktiver Betätigung im Wettkampfsport umgeht.
Der Verlust von Zeit kann auch ein Gewinn von Zeit sein. Jenseits des nun
sukzessive überwundenen Lockdowns bleibt den olympischen Athleten ein Jahr
länger zur Vorbereitung auf die [1][verschobenen Spiele in Tokio]. Manche
erreichen den Zenit ihrer Leistungsfähigkeit gerade in dem Jahr, in dem die
Spiele nur dank der pandemiebedingten Verlegung stattfinden – wenn alles
wie geplant verläuft. Andere haben ihn überschritten und zahlen einen hohen
Preis: die Aufgabe eines Traums. 2021 wird es Olympiasieger geben, die es
im Jahr zuvor nicht gegeben hätte.
Zum Wesen der Zeit gehören das Warten und die Geduld. Nicht jeder ist geübt
in dieser Disziplin, manchem aber wird sie gleichermaßen zur Tugend wie zur
Chance. Dem Hochspringer [2][Mateusz Przybylko], 28, vor zwei Jahren
Europameister, der seine Disziplin leichtfüßig beherrscht, kommt die
Verlegung gelegen. „Ich habe mehr Zeit, an meinen Schwächen zu arbeiten“,
sagt er, dem sein Trainer bisweilen das Gemüt eines Kindes attestiert.
2016 in Rio de Janeiro bei seinen ersten Olympischen Spielen
verletzungsbedingt schon in der Qualifikation ausgeschieden, sollte für
Przybylko Tokio in diesem Jahr ein Fest des Erfolgs werden. Corona machte
es zunichte. „Ich schaue jetzt nach vorne“, sagt Przybylko. „Ein Jahr geht
schnell vorbei.“
## Von der Seele des Sportlers
Ist die Zeit – dieses Grinsen hinter der Maske der Vergänglichkeit, wie
Augustinus sagte – vielleicht doch mehr als die vom menschlichen
Bewusstsein wahrgenommene Form der Veränderungen oder der Abfolge von
Ereignissen? Und was passiert mit einem Sportler, wenn so ein Ereignis in
der Zeit plötzlich einen Sprung um ein Jahr nach vorne macht, reißt die
Verschiebung eine Lücke in das Selbstverständnis eines Sportlers?
„Mit der Bekanntgabe der Verschiebung trat eine gewisse Beruhigung ein“,
sagt Michael Gutmann, der nicht nur Professor für Sportpsychologie in
Göttingen ist, sondern auch leitender Psychologe des Deutschen
Leichtathletik-Verbandes (DLV). „Schlimm war die Phase, in der nicht klar
war, ob die Spiele stattfinden und unter welchen Bedingungen.“
Die „Seele“ des Sportlers, so Gutmann, lebe davon, dass man versuche, alles
unter Kontrolle zu halten und sich bestmöglich auf alle Situationen
vorzubereiten. „Alles, was nicht beherrschbar ist, bleibt damit eine
gewisse Bedrohung.“ Aber die Zukunft, diese große Unbekannte der Zeit,
lässt sich nicht beherrschen, ihr metaphysisches Handwerkszeug bleibt die
Unwägbarkeit. Die Vorstellung der Zukunft ist immer ein vorsichtiges Tasten
in einen dunklen Raum, in dem der Minotaurus sitzen kann oder Fortuna, die
Glücksgöttin der griechischen Mythologie.
## Pragmatische Athleten
Der Alltag der Athleten ist dabei oft weit weniger mythisch. Durch die
[3][Verschiebung der Olympischen Spiele] und das Wegbrechen (fast) der
gesamten Saison [4][etwa in der Leichtathletik] kommt es zu ganz profanen
Ängsten. Ängste um die Existenz. Einkünfte brechen weg, Pläne müssen
korrigiert werden, der Sportler als reiner Idealist ist eine
anachronistische Illusion.
Noch einmal Professor Gutmann: „Das Spektrum der Top-Sportlerinnen und
Top-Sportler umfasst ganz verschiedene Typen. Die meisten gehen mit der
Situation sehr professionell um. Dazu gehört es, sie so zu akzeptieren, wie
sie ist, und praktikable Lösungen zu finden. Auch bezüglich der
existenziellen Situation.“
Die größten Probleme sieht er im Nachwuchsbereich, da in wichtigen
Entwicklungsphasen Wettkampferfahrungen und motivierende Erfolge verloren
gegangen seien.
Fantasie ist gefragt. Wer sich nicht im Stadion treffen kann, verabredet
sich virtuell. Nur langsam kehrt die Normalität zurück. Pläne bieten sich
an, neu geschmiedet zu werden. Vorsichtig läuft das Schicksal sich warm, um
bald neue Helden zu küren.In die Karten aber lässt es sich nicht schauen.
Das Schicksal liebt die Überraschung.
Und die Zeit? Egal was wir machen, sie macht nur, was ihr Wesen ist: sie
vergeht.
11 Jul 2020
## LINKS
[1] /Verschobene-Sommerspiele-in-Tokio/!5670725
[2] /Der-etwas-andere-Hochspringer/!5432329
[3] /40-Jahre-Moskauer-Olympiaboykott/!5676723
[4] /Profi-Leichtathletik-nach-Olympia-Absage/!5672671
## AUTOREN
Paul Frommeyer
## TAGS
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
Wettkampf
Leichtathletik
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
Black Lives Matter
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
Leichtathletik
## ARTIKEL ZUM THEMA
Verspätete Saison in Leichtathletik: „Wir wollen Spaß haben“
Stabhochspringer Torben Blech hat so gut trainiert wie vielleicht noch nie.
Doch Olympia fällt aus – und er sehnt sich nach echten Wettbewerben.
Black Power bei Olympia: Komitee für Korrekturen
Olympia ist nur deshalb in der Moderne angekommen, weil es progressive
Initiativen gab wie das „Olympische Komitee für Menschenrechte“.
Tokio 2020 als Corona-Beschleuniger: Olympische Infektion
Seit der Olympiaverschiebung steigt in Japan die Zahl der
Corona-Infektionen rasant. Sind Risiken vernachlässigt worden, um die
Spiele zu retten?
Profi-Leichtathletik nach Olympia-Absage: „Ich laufe weiter. Was sonst?“
Hindernisläuferin Gesa Krause erzählt, was die Olympia-Verschiebung für sie
bedeutet und warum sie in den USA an ihren Trainingsplänen festhält.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.