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# taz.de -- Grünen-Chefin über Corona und Familien: „Es ist nicht easy-peas…
> Der Kita-Notbetrieb muss ausgeweitet werden, um Kinder nicht sozial zu
> isolieren, sagt Annalena Baerbock. Zudem fordert sie ein
> Corona-Elterngeld.
Bild: Kinder dürfen, wie ältere Menschen, sozial nicht isoliert werden, sagt …
taz am Wochenende: Frau Baerbock, Sie haben zwei kleine Kinder und arbeiten
im Moment meist von zu Hause aus. Wie geht es Ihnen?
Annalena Baerbock: Auch bei mir ist das nicht nur easy-peasy. Was mich aber
vor allem bewegt, ist, zu erleben, was das mit Kindern macht. Gerade meiner
jüngsten Tochter fehlen andere Kinder tierisch. Sie hat jeden Tag mehr
Hummeln im Po. Und wenn dann das Schaumbad in der ganzen Wohnung verteilt
wird, spürt man bei sich selbst, wie der Pegel zwischen Amüsiertheit in
Gereiztheit umschlägt. Wie ist es da erst für Alleinerziehende, die mit all
dem alleine dastehen. Ohne Garten. Für Familien, die auch noch
existenzielle Sorgen haben.
Kanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten haben entschieden, dass
Kitas bis auf Weiteres geschlossen bleiben. Finden Sie das richtig?
Klar kann man nicht sofort alle Kitas und Schulen ohne Voraussetzungen auf
einmal öffnen. Aber die Ansage, Kitas und Grundschulen bleiben bis auf
Weiteres zu – Ende der Durchsage –, ist fatal. So wie die Kanzlerin und die
Ministerpräsidenten richtigerweise entschieden haben, ältere Menschen nicht
zu isolieren, dürfen auch Kinder nicht sozial isoliert werden.
Viele Eltern arbeiten gerade zu Hause, müssen aber auch ihre Kinder
betreuen. Beides zu vereinbaren ist schwer. Welches Feedback bekommen Sie
da?
Da ist Druck im Kessel, die Belastungen nehmen zu. Einen Dreijährigen und
eine Fünfjährige kann man nicht auf Dauer neben einem Vollzeitjob betreuen.
Es geht ja nicht um Ruhighalten. Kinder brauchen Gespräche, soziale
Interaktion, Bewegung.
... und längst nicht alle haben einen Garten oder viel Platz.
Genau. Je kleiner die Wohnung, desto krasser die Situation. Wer mit Kindern
in einer engen Zwei-Zimmer-Wohnung an einer Hauptverkehrsstraße wohnt,
leidet umso mehr. Besonders Frauen trifft es hart. Eine solche Situation
nagt nicht nur an den Nerven, sie kann dramatisch werden.
Inwiefern?
Frauen arbeiten überproportional in den sozialen und schlecht bezahlten
Berufen, sind mehrheitlich diejenigen, die sich um die Kinder kümmern und
jetzt wieder zu Hause bleiben. Nehmen Sie eine alleinerziehende
Pflegekraft. Sie gibt ihr Kind tagsüber in der Notbetreuung ab, kommt nach
der anstrengenden Schicht nach Hause – und soll dann ihr Kind in Englisch
unterrichten, was sie vielleicht selbst gar nicht beherrscht. Irgendwann
geht das nicht mehr. Und nicht für alle Kinder und Frauen ist die Familie
der heile Rückzugsort. Die häusliche Gewalt steigt.
Was folgern Sie daraus? Würden Sie die [1][Kitas sofort wieder öffnen]?
Soziale Hilfeeinrichtungen wie Tafeln und Archen sollten dringend unter
Hygiene- und Abstandsauflagen wieder öffnen. [2][Kinderschutz ist nicht
aufschiebbar.] Und auch bei den Kitas gibt es ja nicht nur schwarz-weiß,
ganz auf oder komplett zu, sondern viele Abstufungen dazwischen, die es zu
nutzen gilt.
Was meinen Sie damit?
Der derzeitige Notbetrieb sollte ausgeweitet werden. Zuallererst auf Kinder
von Alleinerziehenden und Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf. Und
zwar in den Kitas selbst, um viel Platz zu haben, wo es auch schrittweise
Spielzeiten für alle anderen Kinder geben könnte.
Wie würden Sie dies organisieren?
Da ist Ideenreichtum gefragt. Kleinstgruppen könnten eingerichtet,
verschiedene Tageszeiten genutzt werden. Manchen Familien hilft es schon,
wenn das Kind mal für ein, zwei Stunden in die Kita darf. Am Anfang nur
draußen auf dem Außengelände. Für diejenigen, die auf das Mittagessen in
der Kita angewiesen sind, kann man mit den Caterern vereinbaren,
Gratisessen an Ausgabestellen zu verteilen, so dass Eltern es mit ihren
Kindern dort abholen können.
Was ist mit Eltern, deren Kinder nicht förderbedürftig sind – und die wegen
der Zu-Hause-Betreuung nicht arbeiten können?
Für diese Eltern muss eine finanzielle Absicherung her. Wir brauchen eine
Corona-Elternzeit mit Elterngeld für jene Menschen, die wegen der Betreuung
ihrer Kinder nicht arbeiten können. Das würde vielen Eltern Druck, Stress
und Existenzängste nehmen.
Wie sähe der Rahmen aus?
Das Corona-Elterngeld sollte sich an der Systematik des bestehenden
Elterngeldes orientieren, das eingeübt und bekannt ist und Schutz vor
Kündigung gibt. Es käme Eltern zugute, die weder eine Betreuungsmöglichkeit
für ihre Kinder haben noch die Möglichkeit besitzen, in Kurzarbeit zu
gehen. Es wäre in der Höhe vergleichbar mit dem normalen Elterngeld,
Berechnungsgrundlage könnte das durchschnittliche Nettoeinkommen der
letzten zwölf Monate vor Antragstellung sein. Und es würde so lange
gezahlt, bis die Kitas wieder offen sind.
Kinder haben im Moment kaum Orte, an denen sie spielen können. Sind Ihnen
die Kontaktbeschränkungen zu streng?
Die Kinder haben ja nicht nur die Kontaktbeschränkungen, die für alle
gelten. All ihre Orte sind zu. Kinder gehen nicht alleine zur Ablenkung in
den Baumarkt. Sie brauchen Orte, die sie unter Beachtung von
Hygienemaßnahmen nutzen können. Sie können ja nicht auf Dauer in der
Wohnung sein.
Würden Sie [3][Spielplätze öffnen]?
Auch hier nicht pauschal alle auf einmal. Aber wenn da eine einzelne Bank
auf der Wiese steht und daneben eine Schaukel, dann frage ich mich schon,
warum man auf der Bank sitzen darf – und die Schaukel mit weiß-rotem
Flatterband abgesperrt ist. Mir ist die Debatte gerade zu theoretisch und
zu wenig lösungsorientiert. Warum nicht über Spielstraßen sprechen oder
über Leute, die auf größeren Spielplätzen darauf achten, dass es kein
Geknubbel gibt – ähnlich wie in Geschäften.
Ernsthaft? Sicherheitsleute sollen auf Spielplätzen Abstandsregeln
überwachen?
Mit der pauschalen Unterstellung, dass Kinder nicht auf Abstände achten
oder sich nicht an Regeln halten können, macht man es sich zu einfach.
Natürlich können Sie einer Dreijährigen nicht erklären, was Covid-19 ist.
Aber eine Fünfjährige versteht das Problem schon und kann Kleineren helfen.
Kinder lernen jeden Tag, auch neue Regeln – wenn man sie vernünftig
erklärt. Wenn es in der Grundschule klingelt, sitzen alle sofort auf ihrem
Stuhl – oftmals schneller als in älteren Jahrgängen.
[4][Bund und Länder wollen den Schulbetrieb bald starten, allerdings sehr
eingeschränkt.] Der Fokus liegt erst mal auf den Abschlussklassen. Sind Sie
damit einverstanden?
Es ist richtig, nicht alles übers Knie zu brechen und SchülerInnen, die
Abschlüsse machen, bei denen es gerade richtig brennt, zu priorisieren.
Aber die Regeln von Bund und Ländern sind zu starr, und ihre vermeintliche
Leistungsfixierung ist typisch für die deutsche Debatte.
Was stellen Sie sich stattdessen vor?
Flexibel sein und nicht allein unter dem Gesichtspunkt, was alles vom
Stundenplan abgearbeitet werden muss. Für Grundschulkinder sind Schulen
nicht nur Lernorte, sondern ihr soziales Umfeld. Sie treffen FreundInnen,
sie spielen auf dem Hof, sie brauchen ihre Lehrerin, bei der sie Sorgen und
Nöte loswerden können. Jetzt muss nicht gleich in den Dreisatz eingestiegen
werden, sondern eher geschaut werden, welches Kind zu Hause überhaupt nicht
gelesen hat.
Wie?
Möglich wären zum Beispiel als allererstes Sprechstunden, in denen einzelne
SchülerInnen ihre LehrerInnen treffen können – und wenn es nur für eine
halbe Stunde oder einen Spaziergang über den Schulhof ist. Ähnlich wie in
Kitas könnten sich Kleingruppen über den Tag verteilt und unter Einhaltung
der Hygienevorschriften in der Schule abwechseln. Wenn ältere Lehrer nicht
arbeiten können, dann Lehramtsstudierende miteinbeziehen. Ideenreichtum
statt zu warten, bis der heilige Gral für alle gefunden ist.
Damit nähmen Sie in Kauf, dass die Infektionsraten wieder schneller
stiegen.
Klar muss die Frage der Verbreitungsgefahr bei allen Schritten mitgedacht
werden. Aber es darf nicht nur die virologische Sicht geben. Bei der
Abwägung des Infektionsrisikos muss auch der Kinderschutz eine Rolle
spielen. In anderen Bereichen, wie der Öffnung der Geschäfte, wird ja auch
abgewogen. Statt bei den Kindern nur zu sagen, was alles nicht geht, sollte
man sich den Kopf zerbrechen, wie es gehen kann. Es braucht zudem dringend
wissenschaftliche Studien, wie sich das Virus unter Kindern verbreitet.
Bisher ist mir keine Infektionskette in einer Notfallbetreuung bekannt.
Die Krise verschärft soziale Unterschiede. Die bildungsbewusste
Mittelschicht beschult ihre Kinder zu Hause, Kinder in bildungsfernen
Familien werden vor dem Fernseher geparkt. Was kann man dagegen tun?
Na ja, auch Mittelschichtsfamilien haben derzeit den Fernseher sicher öfter
an. Wir jedenfalls haben die Sendung mit der Maus schon x-mal durch. Aber
klar sind einige Kinder besonders gefährdet und die soziale Schieflage
verschärft sich mit jedem Tag, an dem die Schulen und Kitas geschlossen
sind. Wir brauchen daher einen sozialen Schutzschirm für Familien. Das
fängt bei einer Regelsatzerhöhung für die Eltern an, geht über einen
Zuschlag von 60 Euro für Kinder im Bildungs- und Teilhabepaket, denen das
kostenlose Mittagessen jetzt wegfällt, und hört beim Laptop auf.
Schulkindern aus sozial benachteiligten Familien müsste ein digitales
Endgerät bezahlt oder ausgeliehen werden, damit sie am digitalen
Fernunterricht überhaupt teilnehmen können.
Ihr Parteifreund Christian Ströbele hat gedroht, [5][er ziehe sofort vors
Verfassungsgericht], wenn jemand alte Menschen isolieren wolle. Könnten
Eltern nicht auch mit Karlsruhe drohen?
Eltern haben für so was keine Zeit. Die alleinerziehende Mutter hat anderes
zu tun, als eine Verfassungsklage zu formulieren. Sie ist gerade
Alleinverdienerin, Mutter, Lehrerin und pädagogische Fachkraft in einem.
17 Apr 2020
## LINKS
[1] /Corona-Lockerungen-in-Deutschland/!5676691
[2] /Soziale-Folgen-von-Corona/!5673793
[3] /Corona-und-Kontaktregeln-fuer-Kinder/!5677602
[4] /Corona-Lockerungen-in-Deutschland/!5679081
[5] https://www.rnd.de/politik/strobele-zur-corona-krise-wenn-sie-die-alten-sep…
## AUTOREN
Ulrich Schulte
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