# taz.de -- Häusliche Gewalt in Zeiten der Isolation: Die Stille trügt | |
> In Hamburg werden bislang nicht mehr Fälle häuslicher Gewalt gemeldet. | |
> Fachleute vermuten, weil den Betroffenen die Freiräume fehlen. | |
Bild: Nicht für alle Menschen bedeutet das eigene Zuhause Schutz | |
HAMBURG taz | In Hamburg lässt sich seit dem Beginn der | |
Ausgangsbeschränkungen bislang keine Zunahme häuslicher Gewalt feststellen. | |
Das mag auf den ersten Blick erstaunlich wirken, da Zahlen aus China, | |
Italien, Spanien, der [1][Türkei] und jüngst auch aus den USA zeigen, dass | |
häusliche Isolation zu mehr Gewalt in Familien und Partnerschaften führen | |
kann. Die Frauenhäuser und Beratungsstellen in Hamburg rechnen jedoch erst | |
nach Lockerung der Kontaktsperren mit mehr Hilfesuchenden. | |
„Wenn Frauen jetzt mit ihrem Partner viel mehr zu Hause sein müssen, gehen | |
Zeitfenster verloren, wo der Partner zur Arbeit geht oder die Frau Kinder | |
zur Schule oder Kita bringt“, sagt Anika Ziemba, Mitarbeiterin im 4. | |
Hamburger Frauenhaus. „Das sind normalerweise die Zeitfenster, die Frauen | |
haben, um sich über Hilfsangebote zu informieren.“ | |
Daher sei es wenig überraschend, dass sich bisher nicht mehr Frauen an | |
Beratungsstellen wendeten. Außerdem herrsche bei vielen Betroffenen | |
Verunsicherung darüber, ob Beratungen überhaupt stattfinden, da durch | |
Kontaktsperren und Schließungen der Eindruck entstehe, alles stehe still. | |
Ziemba geht deshalb von einer erhöhten Dunkelziffer aus. | |
Auch Polizeisprecher Holger Vehren sagt, dass keine statistische Zunahme | |
von Beziehungsgewalt zu erkennen sei. Bis es zu einer Anzeige bei der | |
Polizei komme, hätten die Frauen meistens jedoch bereits eine „lange | |
Gewaltspirale“ erfahren. Es sei somit nicht auszuschließen, dass die | |
Situation in einigen Wochen eine andere sein werde. | |
## In der Regel sind alle Plätze belegt | |
Die Sozialbehörde ist darauf vorbereitet, zur Not spontan neue | |
Frauenhaus-Plätze zu schaffen, indem weitere Unterkünfte angemietet werden. | |
„Wir haben zusätzliche Raumkapazitäten geschaffen, um weiterhin jederzeit | |
verfügbare Kapazitäten zu haben und auf etwaige Bedarfe zur Isolierung | |
reagieren zu können – nicht, weil die Zugangszahlen höher wären oder der | |
Platzbedarf nicht mehr zu decken wäre.“ | |
In der Praxis sieht das jedoch anders aus. Regulär gibt es in Hamburg 194 | |
Frauenhausplätze, die in der Regel belegt sind. Oft müssen Frauen an andere | |
Hilfsstellen in umliegenden Bundesländern vermittelt werden. „Bereits vor | |
der Coronapandemie waren die Frauenhäuser seit Jahren überlastet“, | |
kritisiert Cansu Özdemir, frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion. | |
„Laut Istanbul-Konvention fehlen in Hamburg rund 200 Schutzplätze für akut | |
von Gewalt betroffene Frauen und ihre Kinder.“ | |
Anika Ziemba bestätigt, die Frauenhäuser seien „immer voll ausgelastet“. | |
Das betreffe nicht nur die Räumlichkeiten, sondern auch das verfügbare | |
Betreuungspersonal. Normalerweise komme eine Mitarbeiterin auf acht Frauen | |
– doppelt so viele wie von der Zentralen Informationsstelle der Autonomen | |
Frauenhäuser (ZIF) empfohlen. Gegenwärtig müsse die persönliche Betreuung | |
der Frauen wegen des Infektionsrisikos bereits heruntergeschraubt werden. | |
Dabei benötigten die Betroffenen gerade in unsicheren Zeiten mehr Zuspruch | |
und Unterstützung. „Wir brauchen erweiterte Personalressourcen“, fordert | |
Ziemba. | |
Dafür gebe es jedoch von der Sozialbehörde keine Zusicherung. Auf Anfrage | |
der taz zu zusätzlichem Not-Personal heißt es, „je nach Fallkonstellation“ | |
bestehe die „Möglichkeit einer weiteren Unterstützung“. Das ist keine | |
Absage, gibt den Mitarbeitenden in den Anlaufstellen aber auch nur wenig | |
Sicherheit. Schließlich müssten Sozialarbeiter*innen gesondert geschult | |
werden, um teilweise traumatisierte Frauen und Kinder ausreichend zu | |
betreuen, meint Ziemba. Das erfordere eine langfristige Planung, deswegen | |
sei schnelles, vorausschauendes Handeln erforderlich. | |
Erst nach der Krise wird sich zeigen, wie gravierend sich häusliche | |
Isolation, Verunsicherung und Stress auf bestehende Machtstrukturen in | |
Familien und Partnerschaften auswirken. Bis dahin macht die Sozialbehörde | |
„durch Öffentlichkeitsarbeit auf Angebote aufmerksam, mit denen sich | |
Betroffene oder Ratsuchende Hilfe holen können“. Solange soziale Strukturen | |
wie Arbeit, Schule, Kita und soziales Umfeld jedoch wegfallen, gerät Gewalt | |
innerhalb der eigenen vier Wände noch stärker ins Unsichtbare. „Gewalt | |
funktioniert nur, weil wir nicht darüber sprechen.“, sagt Anika Ziemba. Das | |
gelte nicht erst seit Coronazeiten. | |
17 Apr 2020 | |
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[1] /Corona-und-Maennergewalt-in-der-Tuerkei/!5677848 | |
## AUTOREN | |
Sarah Zaheer | |
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