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# taz.de -- Berliner Familienhelfer reden Tacheles: „Wir arbeiten weiter an d…
> Es bräuchte mehr Geld und Stunden vom Jugendamt, um Kinderschutzfälle und
> Eltern in der Krise gut zu begleiten, sagen Familienhelfer im Interview.
Bild: Das Bild zeigt eine Jugendhilfeeinrichtung in Marzahn, in der die Intervi…
taz: Herr B., Frau A., Frau C., Sie drei arbeiten als FamilienhelferInnen.
Können Sie erst mal erklären, was das bedeutet?
Frau A.: Wir versuchen so niedrigschwellig wie möglich Familien in
verschiedenen Lebensbereichen zu beraten. Familien können sich beim
Jugendamt melden, wenn sie meinen, dass sie Unterstützung brauchen, etwa
weil sie mit ihrem pubertierenden Kind nicht klarkommen. Es gibt auch
Fälle, wo Schulen oder Kitas sich Sorgen machen, weil ein Kind extreme
Verhaltensauffälligkeiten zeigt. Dann gibt es eine Meldung ans Jugendamt,
die gehen dem nach. Und wenn die Familie sich bereit erklärt oder das Amt
es erzwingt, wird eine Hilfe eingeleitet. Das sind die sogenannten
Kinderschutzfälle.
Dann kommen Sie ins Spiel?
Herr B.: Ja, das Jugendamt beauftragt einen freien Träger, zum Beispiel
unseren, den Fall zu übernehmen.
Auch jetzt in der Coronakrise?
A.: Der Senat hat gesagt, dass wir weiterhin Kinderschutzfälle übernehmen
müssen. Das heißt, dass wir unter Umständen in die Wohnungen gehen müssen.
Zum Glück, oder? Ohne Schule, ohne Kita bekommt ja kaum jemand mit, wie es
den Familien geht. Da können ja in Kinderzimmern gerade Katastrophen
passieren!
C.: Ja, schon. Es heißt, dass wir das „kreativ“ machen können, also auch
per Telefon oder indem man sich draußen trifft. Das funktioniert ganz gut,
wenn man die Familie kennt und schon eine Beziehung zu ihr hat. Schwieriger
wird es, wenn man einen Kontrollauftrag in der Wohnung hat, also gucken
soll, ob der Kühlschrank voll ist oder ob Kleidung da ist. Vor dem Problem
stehen wir gerade.
Wieso?
C.: Weil wir unsere eigene Gesundheit gefährden.
Bekommen Sie keinen Mundschutz oder Desinfektionsmittel?
C.: Bis jetzt ist noch nichts da.
B.: Auch wenn wir uns mit Familien draußen treffen, wird der Abstand oft
nicht eingehalten. Das können die kleinen Kinder nicht, und auch mit den
Eltern ist es oft schwierig.
A.: Es wird von uns erwartet, dass wir den Kinderschutz bedienen – und das
ist ja auch wirklich nachvollziehbar. Aber wir setzen uns damit einer
Gefahr aus. Wir haben das auch thematisiert bei unserem Arbeitgeber. Aber
da passiert einfach nichts.
C.: Das wird einfach vom Tisch gewischt. Im Gegenteil hatte unser Träger
Sorge vor finanziellen Einbußen, da wir zurzeit weniger Hausbesuche machen.
Aber Sie haben doch weiter gut zu tun!
C.: Ja, aber das war wie ein Reflex. Soziale Arbeit ist ein Markt geworden.
Der Träger bekommt vom Amt für einen Fall eine bestimmte Zahl von
Fachleistungsstunden zugesprochen, also pro Stunde rund 60 Euro. Davon
bekommen wir Familienhelfer nicht mal ein Drittel brutto! Natürlich muss
von dem Geld alles andere mitfinanziert werden, Büroräume etc.
Sie fühlen sich ausgebeutet vom System?
B.: Ja. Denn bei uns wird seit Jahren alles zusammen gekürzt.
Fortbildungen, Räume, Mittel für Freizeitangebote: alles wird immer
weniger.
A.: Was wirklich ärgerlich ist: Wenn ein Auftrag vom Jugendamt kommt, etwa
wie vorige Woche im Kinderschutz mit häuslicher Gewalt – und wir dafür nur
drei Fachleistungsstunden zugesprochen bekommen. Das ist viel zu wenig,
damit kann keine qualitative Arbeit stattfinden.
Warum übernehmen Sie dann den Auftrag?
A.: Die Träger sind in der Bredouille. Sie wollen Aufträge vom
Kostenträger, also dem Jugendamt, und sich nicht zu weit aus dem Fenster
lehnen. Und wir MitarbeiterInnen stehen auch in Konkurrenz: Ich würde einen
solchen Fall mit nur drei Stunden nicht mehr nehmen. Aber es gibt immer
jüngere KollegInnen, die frisch vom Studium kommen, verunsichert sind, wie
das läuft, vielleicht auch auf alle Stunden angewiesen sind, die sie
bekommen können – und die nehmen den Fall.
Ist das schon länger so, dass das Jugendamt so geizt mit Stunden?
C.: Ja, und dazu muss man wissen: In den drei Stunden stecken noch viele
verschiedene Aufträge. Es heißt: Kümmern Sie sich um Schule, Kita, die
Stabilität der Mutter und und und.
Wie viele Stunden wären nach Ihrer Ansicht nötig?
A.: In einem Kinderschutzfall ist es sinnvoll, dass zwei Kollegen in die
Familie gehen – zumal wenn Gewalt im Spiel ist. Dann kann man sich
austauschen und hat einen Schutz. Also müsste es mit 12 Stunden losgehen,
wenn es verschiedene anspruchsvolle Ziele gibt.
Sie gehen immer zu zweit in die Familien?
B.: Im Kinderschutz zu Beginn, ja. Aber bei den Hilfekonferenzen, wo wir
mit dem Jugendamt zusammensitzen, fühlen wir uns, als ob wir feilschen
müssen um jede Stunde. Mir wurde auch schon gesagt: Sie müssen mit dem
Jugendamt verhandeln, damit Sie mehr Stunden bekommen. Aber das ist nicht
mein Job.
A.: Ich wollte noch etwas zur häuslichen Gewalt sagen. Wir als
Familienhelfer sind dieser Gewalt nämlich auch ausgesetzt. Aber von unserem
Träger bekommen wir da zu wenig Hilfe oder Schutz.
Was könnte Ihr Träger denn tun?
A.: Er könnte uns eine extra Supervision anbieten. Oder er könnte sagen,
wenn es um die Inobhutnahme eines Kindes geht, dass wir nicht dabei sein
müssen, sondern das Jugendamt das machen muss. Es kommt nämlich oft vor,
dass das Jugendamt uns instrumentalisiert, also uns mitnehmen will zur
Inobhutnahme, weil wir ja eine Beziehung aufgebaut haben zu den Kindern und
es dann leichter wird, sie aus der Familie rauszunehmen. Aber wir setzen
uns dabei natürlich einer Gefahr aus, weil die Beziehung dann kaputtgeht
und wir womöglich die Aggressionen der Eltern abgekommen.
B.: Bei mir kam es bei Inobhutnahmen schon sehr oft zu Eskalationen und
Bedrohungen. Wir werden dann von den Eltern als Schuldige angesehen. Ich
habe schon Todesdrohungen per SMS bekommen.
Was könnte man denn machen?
C.: Man müsste selbst eine Anzeige stellen. Aber es geht hier um
Mitarbeiterschutz, der Arbeitgeber müsste sich vor mich stellen. Dazu
kommt, dass unsere Arbeit finanziell und gesellschaftlich einfach nicht
anerkannt wird.
Wieso gesellschaftlich?
C.: Wir sind so unsichtbar. Alle denken immer, Familienhelfer trinken ja
nur Kaffee mit den Leuten, labern ein bisschen.
A.: Gerade jetzt in dieser Coronazeit ist das besonders ärgerlich. Das
Jugendamt hat seine Türen zugemacht für den Publikumsverkehr. Aber von uns
wird erwartet, dass wir weiterhin die Familien treffen.
C.: Und an wen sollen wir uns wenden, wenn wir Probleme in den Familien
feststellen?
Das frage ich mich auch. Es hieß ja schon am Anfang der Kontaktsperre, das
Jugendamt stellt die Arbeit ein, die Träger auch – und keiner weiß, was im
Moment in den Familien los ist.
A.: Ja, genau. Nur wir arbeiten weiter an der Front. Ich habe zum Beispiel
zwei Familien, in denen die Eltern nicht lesen können. Wenn die einen Brief
vom Amt bekommen, sind sie aufgeschmissen. Wenn ich jetzt sage, wir können
uns wegen Corona nicht sehen, was passiert dann? Also gehe ich weiterhin
mit ihnen Unterlagen durch oder habe auch vorige Woche eine Mutter zum Arzt
begleitet. Trotzdem kam kürzlich die Ansage vom Jugendamt, wir würden doch
wegen Corona weniger Stunden machen.
Das wurde Ihnen gesagt?
A.: Ja. Aber das heißt nicht nur, weniger Hilfen für die Familien, es
bedeutet für uns auch weniger Gehalt. Während die Mitarbeiterin vom
Jugendamt schön Homeoffice macht und ihr volles Gehalt bekommt. Das ist so
ärgerlich!
B.: Ich bin richtig wütend geworden, als ich kürzlich den Brief von der
Bildungssenatorin bekommen habe mit einem Dank, dass ich in einem
wichtigen, „systemrelevanten“ Beruf arbeite und unsere Gesellschaft
unterstütze. Dann würde ich mir auch ein bisschen Anerkennung wünschen,
mehr Stunden bezahlt bekommen, vielleicht einen Zuschuss, eine Art
Gefahrenzulage oder so. Ich mache meine Arbeit wirklich gerne, das Konzept
der Familienhilfe ist an sich auch super. Aber die Rahmenbedingungen sind
einfach nicht akzeptabel für mich – das zeigt sich in dieser Krise
eklatant.
C.: Und meine Sorge ist, dass es noch schlimmer wird, dass die Träger die
nächsten drei Jahre sagen werden, sorry, mehr Geld geht nicht, wir hatten
ja Corona, wir müssen noch mehr verknappen. Aber wie soll das gehen? Die
Leute arbeiten sich kaputt! Noch ein Beispiel: Uns wurde die Supervision in
den letzten Jahren halbiert. Das ist für unsere fachliche Arbeit sehr
wichtig, dort besprechen wir alle Fälle im Team. Bei uns sind das acht bis
zehn Leute, die alle bis zu sieben Fälle haben. Inzwischen haben wir dafür
nur noch zwei Stunden pro Monat, für 70 Fälle! Da kann man nichts
besprechen in der kurzen Zeit.
B.: Oder die Kürzungen bei den Sachmitteln. Wenn wir draußen etwas mit
Kindern unternehmen, brauchen wir dafür Geld. Sehr oft zahle ich das aber
aus eigener Tasche, etwa ein Eis. Der Betrag für die Sachmittel wurde von
etwa 120 Euro auf 60 Euro reduziert, für rund sechs Familien pro Monat. Was
sollen wir machen, wenn im Hilfeplan „Freizeitgestaltung“ steht? Man kann
in Berlin wenig ohne Geld gestalten.
A.: Zumal wenn man, wie ich, Familien mit drei oder vier Kindern betreut!
C.: Wir bekommen dann zu hören, dass wir eben pädagogisch mit den Eltern
arbeiten sollen, sodass sie die Freizeitgestaltung bezahlen. Aber wir
arbeiten in einem Milieu, wo 98 Prozent von Transferleistungen leben.
A.: Jetzt in der Krise sagt dann noch unsere Teamleitung, wir könnten ja
gerade sowieso keine Freizeitgestaltung machen. Dabei stimmt das nicht.
Natürlich könnten wir mit den Kindern Fahrradtouren machen und müssten
ihnen dann auch mal etwas zu essen kaufen. Oder wir könnten ihnen Malbücher
zukommen lassen, Spiele. Ich habe große Sorge um die Kinder, die ich
betreue. Sie sind ohnehin benachteiligt, und jetzt durch den Wegfall der
Schule und der Kita kommen sie gar nicht mehr aus ihren schwierigen
Verhältnissen raus.
Was ist denn Ihre Beobachtung: Wie wirkt sich die Kontaktsperre in den
Familien aus?
B.: Also am Anfang der Pandemie war es in meinen Familien noch ziemlich
ruhig. Aber jetzt fängt es an. Ich hatte in meinen Familien zwei Krisen
vorige Woche. Die Eltern sind es nicht gewohnt, 24 Stunden mit ihren
Kindern zusammen zu sein. Zum Glück können die auf Wunsch auch in die
Notbetreuung.
Das geht?
B.: Ja, in den Fällen von Kinderschutz klappt das ganz gut.
A.: Bei den Familien, die ich betreue, stelle ich eine große Ängstlichkeit
und Verunsicherung fest. Zum Beispiel in einer Familie hat die Mutter aus
Angst zwei, drei Wochen die Wohnung nicht verlassen. Andere verstehen die
Nachrichten nicht, man muss sie erst mal aufklären: Was heißt Hygiene,
Sicherheitsabstand, wieso sind die Schulen geschlossen? Keine meiner
Familien hatte das verstanden.
C.: Viele Familien leben zu viert oder fünft in einer 2- bis
3-Zimmer-Wohnung, das verschärft die Lage sowieso. Wenn dann noch häusliche
Gewalt dazukommt …
Ich habe gelesen, dass in Wuhan in China die Fälle von häuslicher Gewalt
sich durch die Krise um das Vierfache erhöht haben sollen.
C.: Ja, das ist vorstellbar. Gerade ist es schwer einzuschätzen, was in den
Familien passiert, wenn man sie fast nur draußen trifft. Aber spätestens
wenn die Kinder wieder in die Schule gehen, wird man es merken, etwa an
sogenannten Sekundarauffälligkeiten.
B.: Manchmal hat man auch ein komisches Bauchgefühl und merkt, etwas läuft
nicht gut.
Was können Sie dann machen?
B.: Normalerweise sprechen wir dann mit der Schule oder der Kita. Im Moment
können wir aber nur weiter beobachten.
C.: Oder indirekt etwas heraushören. Eine Mutter hat mir jetzt am Telefon
gesagt, sie möchte gerne, dass ihr Kind in die Notbetreuung kommt. Da
reagieren wir dann sofort drauf, denn wer weiß, was dahintersteckt. Aber es
stimmt, das meiste werden wir erst mitbekommen, wenn die Schule wieder
losgeht und die Kinder wieder „im System“ gesehen werden können.
A.: So war es ja auch in Wuhan. Es wird jedenfalls brodeln und wir werden
auch nach der Krise gut zu tun haben.
Was wäre Ihr Wunsch? Dass Sie direkt angestellt werden beim Jugendamt?
C.: Wir übernehmen ja staatliche Aufgaben: Das Wächteramt Jugendamt guckt
nach. Da frage ich mich schon, warum muss man das privatisieren? Es gibt
eigentlich nur einen Grund: um es günstiger zu machen. Wir wollen dagegen
eine gute Ausstattung, gute Bezahlung, gute Rahmenbedingungen.
B.: Und jetzt in der Krise eine Anerkennung über Geld – wenn ich mich schon
in Gefahr bringe. So, wie alle systemrelevanten Berufe jetzt mehr Geld
kriegen sollten. Ich wünsche mir auch Klarheit über die Finanzierung der
Träger. Ich will genau wissen, was mit unseren Fachleistungsstunden bezahlt
wird, wohin das ganze Geld fließt. Das ist staatliches Geld. Wir haben mit
Menschen zu tun und ich möchte gerne wissen, warum ich so wenig Geld dafür
bekomme, viel zu wenig Supervision, zu wenig Raum, in dem ich vernünftig
arbeiten kann.
Was verdienen Sie denn, wenn ich fragen darf?
A.: Neben einem Studium haben die meisten von uns eine therapeutische
Zusatzqualifikation und/oder arbeiten zweisprachig. Ich habe eine
Vollzeitstelle und betreue in der Regel sieben, acht Familien. Wenn ich die
habe, wenn es also gut läuft, habe ich netto 1.800 oder 1.900 Euro. Aber
wenn weniger Fälle da sind, bekomme ich eben auch weniger. Wir verdienen
nie gleich.
12 May 2020
## AUTOREN
Susanne Memarnia
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