# taz.de -- Boris Palmer über Corona-Quarantäne: „Ein neuer Generationenver… | |
> Der Grüne Boris Palmer fordert Corona-Quarantänen nur für Risikogruppen | |
> und kritisiert moralische Positionen, wenn sie den Blick auf Fakten | |
> verstellen. | |
Bild: Künftig nur die Risiko-Gruppen isolieren? Boris Palmer ist dafür | |
taz: Herr Palmer, Sie haben den Shutdown ja schon früh skeptisch | |
betrachtet. Setzen Sie jetzt als Oberbürgermeister von Tübingen | |
Kontaktverbote durch, hinter denen sie gar nicht stehen? | |
Boris Palmer: Mir hat die Risikoabwägung gefehlt. Das war einige Zeit ein | |
Überbietungswettbewerb mit immer strengeren Maßnahmen, um auf der scheinbar | |
sicheren Seite zu sein. Die gibt es aber nicht. Auch eine Überreaktion ist | |
gefährlich. Vor zwei Monaten habe ich einen Shutdown für falsch gehalten. | |
Heute ist er richtig, weil die Welle der Infektionen zu schnell angestiegen | |
ist und wir sie nicht mehr im Griff hatten. | |
Wäre das zu vermeiden gewesen? | |
Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass auch der Shutdown Menschenleben | |
kosten wird und wir ihn deshalb so kurz wie möglich halten müssen. | |
Was meinen Sie damit? | |
Bei uns in Europa sind diese Effekte sicher indirekter. In früheren | |
Wirtschaftskrisen ist die Selbstmordrate deutlich angestiegen. Aber in | |
armen Ländern schlägt das unmittelbar durch. Wenn in Südafrika fünf Wochen | |
lang alles mit der Armee dichtgemacht wird, dann ist das ein | |
unvorstellbarer Armutsschock für die Bevölkerung. Mehr Armut bedeutet in | |
Afrika steigende Kindersterblichkeit. Das kostet direkt Menschenleben. | |
Wie kommen wir da wieder raus? | |
Wir bekommen ja immer mehr Daten. Wir wissen zum Beispiel durch das | |
Ifo-Institut, dass uns drei Monate Shutdown 700 Milliarden vom | |
Bruttoinlandsprodukt kosten könnten. Wir wissen, dass das | |
Durchschnittsalter der Menschen, die in Europa mit Corona sterben, etwa bei | |
80 Jahren liegt, also nur wenig niedriger als das normale Sterbealter. Wir | |
wissen auch, dass sich das Virus bei Menschen unter 50 und ohne | |
Vorerkrankungen eher wie eine schwere Grippe verhält, viele haben gar keine | |
Symptome. Wenn wir all das berücksichtigen, müssen wir abwägen: Welche | |
Maßnahme hat die höheren Kosten? Das meine ich nicht monetär, sondern | |
gemessen an menschlichem Leid und Leben. | |
Sie wollen die Kontaktverbote beenden? | |
Nein, es ist jetzt nicht die Zeit, die Maßnahmen infrage zu stellen, oder | |
sie aufzuheben. Aber jetzt können wir schon einmal Wege finden, um | |
möglichst bald wieder rauszukommen. | |
Ihr politischer Weggefährte Winfried Kretschmann sieht das anders. Er sagt, | |
es verbietet sich, jetzt schon über den Exit zu diskutieren. | |
Meinungsverschiedenheiten sind sogar zwischen Winfried Kretschmann und mir | |
möglich. Ich bin da eher bei Armin Laschet. Kretschmanns Sorge ist ja, dass | |
die Akzeptanz der Maßnahmen durch die Debatte untergraben werden könnte. | |
Das sehe ich aber umgekehrt. Ich glaube, dass die Menschen Perspektiven und | |
Hoffnungen brauchen, um schwere Zeiten durchzustehen. | |
Für Sie führt der Weg aus dem Shutdown über die Isolierung von | |
Risikogruppen wie Alten oder Menschen mit Vorerkrankungen. Wie soll das | |
praktisch funktionieren? | |
Ich muss ja jetzt schon als Chef der kommunalen Polizeibehörde eine hohe | |
dreistellige Zahl an Quarantäne-Anordnungen durchsetzen. Ich halte es für | |
vertretbar, bei Menschen im Alter ab 65 und aufgrund von Vorerkrankungen | |
solche Quarantäne-Anordnungen auszusprechen. In vielen Fällen ist das | |
einfach umsetzbar. Ein Ehepaar mit 80, rüstig und gesund, darf zu zweit im | |
Wald spazieren gehen. Aber sie bekommen alles, was sie brauchen, nach Hause | |
geliefert, gehen nicht mehr in die Stadt und treffen keine Freunde und | |
Verwandten. Das ist für einige Zeit zumutbar, wenn man weiß, dass für | |
dieses Ehepaar auf der anderen Seite ein Todesrisiko von 15 Prozent bei | |
Infektion mit Corona steht. | |
Es gibt Leute, die sagen, das widerspräche dem Gleichheitsgrundsatz in der | |
Verfassung. | |
Wenn man Quarantäneanordnungen nach klaren Risikokriterien ausspricht, ist | |
das rechtlich machbar, weil man nur Gleiches gleich behandeln muss. | |
Es spaltet die Gesellschaft, wenn Junge weiterleben wie bisher und wir Alte | |
und Kranke wegsperren. | |
Nein, ich finde, das wäre ein neuer Generationenvertrag, bei dem die | |
Jüngeren arbeiten gehen und das Infektionsrisiko auf sich nehmen, während | |
die Älteren und Kranken auf soziale Kontakte verzichten. | |
Die Jungen würden zur Normalität zurückkehren? | |
Für alle, die nicht zur Risikogruppe gehören, könnte man dann schrittweise | |
lockern. Natürlich nicht zurück zur völligen Normalität mit | |
Bundesligaspielen und verschwitzten Disco-Partys. Das Ziel wäre, das | |
Wirtschaftsleben halbwegs zu normalisieren, sodass die Leute wieder | |
arbeiten gehen können, aber keinen ungeschützten Kontakt mehr mit der | |
Risikogruppe haben. | |
Experten nennen das Cocooning, der Epidemiologe Alexander Kekulè spricht | |
davon, die Risikogruppen müssten in eine Art „Fort Knox“. Zeigen die hohen | |
Infektionszahlen in Altersheimen nicht, dass es einfach nicht gelingt, | |
diese Menschen wirksam zu isolieren? | |
Es gibt ja nicht mal Masken für die Pflegenden! Diese Fälle zeigen einfach | |
nur, dass wir unsere Alten und Kranken im Moment nicht genug schützen. Das | |
sieht man auch daran, dass ich immer noch 90-Jährige beim Einkauf auf dem | |
Wochenmarkt treffe. Die müssten die Hilfe annehmen und sich die Sachen | |
bringen lassen. | |
Aus der Bundespolitik ist zu hören, eine [1][Isolation von mindestens 16 | |
Millionen Seniorinnen und Senioren sei nicht zu leisten]. | |
Ich wüsste nicht, warum das schwieriger sein soll als drei Monate Shutdown | |
für alle. Wenn die Regierung es für denkbar hält, 700 Milliarden Euro zu | |
verbrennen, weil die Wirtschaft ruht, ist es dann nicht vorstellbar, für | |
vielleicht 10 Prozent der Kosten eine optimale Versorgung der Alten und | |
Kranken auf die Beine zu stellen? Es gibt ja genügend Leute, die einsetzbar | |
wären. | |
Mit der Versorgung allein ist es ja nicht getan. | |
Das Cocooning wäre natürlich nur möglich in Kombination mit einer hoch | |
effektiven Nachverfolgung der Infektionsketten. Wir müssen schneller sein | |
als das Virus. Im Moment brauchen wir mit den Quarantäneanordnungen | |
teilweise 10 Tage. Das müsste innerhalb eines Tages gehen. Dafür bräuchten | |
wir die Handydaten. | |
Was ist dann der Grund für die Ablehnung Ihres Vorschlags? | |
Ich glaube, das hat moralische Gründe. Wir wollen nicht diese | |
unterschiedliche Behandlung der Generationen akzeptieren. Aber das tut ja | |
das Virus, wir reagieren nur darauf. | |
Braucht es nicht gerade in der Krise einen moralischen Kompass? | |
Mich stört es, wenn moralisiert wird, ohne zu analysieren. In den Medien | |
und der Debatte dominieren die gefühlsstarken Einzelfälle. Mich hat die | |
Geschichte des 14-jährigen Mädchens, das in Paris an Corona gestorben ist, | |
auch mitgenommen. Aber bei den Menschen bleibt dann nur hängen, es können | |
auch Teenager an Corona sterben. Ja, wenn wir es zulassen, dass sich Junge | |
infizieren, dann bleibt ein kleines Restrisiko, aber das ist nicht größer | |
als das im Straßenverkehr. In Wahrheit sind wir doch in einem Dilemma. Egal | |
was wir tun, es werden Menschen sterben. Auch wenn wir nichts tun, | |
entscheiden wir aktiv mit, wer das sein wird. Sich streng an Daten und | |
Fakten zu halten, rettet da mehr Leben, als wenn man die eigene Moralität | |
hochhält. | |
Gibt es für Sie international ein Vorbild für diesen Weg? | |
Nein, kein Land, in dem sich das Virus schon so weit verbreitet hat wie bei | |
uns, hat den Exit auf diese Weise geschafft. Was die Schweden in dieser | |
Phase machen, nämlich ohne Shutdown das Leben weiterlaufen zu lassen und | |
für Alte und Kranke Empfehlungen auszusprechen, halte ich für zu riskant. | |
Aber wenn wir in Deutschland jetzt im Shutdown allein auf den Impfstoff | |
warten, dauert das einfach zu lange. | |
5 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Benno Stieber | |
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