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# taz.de -- Ulf Poschardts Buch „Mündig“: Zeit für ein neues Gefährt
> Der Chef der „Welt“ hat ein Buch geschrieben. „Mündig“ handelt von s…
> Lieblingsthemen wie Individualismus und Verboten.
Bild: Achtung! Das ist nicht das Auto von Ulf Poschardt
Ja, Ulf, wir wissen, du würdest lieber mit den coolen Kindern im Sandkasten
spielen. Aber, sieh es ein, Ulf: Du bist alt. Der Bums ist weg, der Knall.
Der Einspritzverroster tut’s nicht mehr, die Kupplung zieht Fäden, und aus
der Buchhaltung hört man auch nichts Gutes über dich. Einfach so
umhergurken in der Mittagspause, den Kopf frei kriegen: Das darfst du seit
ein paar Tagen nicht mehr. Gefangen in einer beliebigen Quatschposition und
jetzt wahrscheinlich auch in deiner mittelsauberen Vierzimmerwohnung, bläst
du mittags deine fünfzig Zeilen in die Welt und bist abends zu müde, um
noch irgendetwas anderes zu machen als twittern.
Klar, Geld ist da, dicke. Bei dir. [1][Der Welt aber fehlt es.] Und so
stehst du ganz oben auf der Abschussliste vom zwei Meter großen Döpfner und
von Friede Springer sowieso. Musst dir [2][rechtsdumme Brunzdumpfler wie
Don Alphonso] gefallen lassen und darfst nicht mal mit den Augen rollen.
Anstrengend muss das sein.
Stopp. Das hier ist, genau wie dein Buch, ein Dokument aus vergangenen
Zeiten, als man noch ungehemmt hassen und Aufforderungen wie die, die du
[3][bei deiner Lesung in der taz] verstreutest: doch lieber die „echten
Nazis“ zu bekämpfen – also deine Autoren? –, selbstverständlich für Hu…
halten konnte. Jetzt aber, da die Katastrophe vor der Tür steht,
erscheint das alles irgendwie belanglos. Ulf, Ulf, taz, taz, Porsche,
Porsche, kicher, kicher: Wen juckt’s? Außerdem: Wir Systemirrelevanten sind
im Moment alle zu Hause. Haben alle Zeit, etwas runterzukommen. Uns dem
Poschardt’schen Werk einmal nüchtern zu nähern. Was bleibt?
Eine Krise, die jeden Individualismus, auch wenn er noch so heroisch
vorgebracht sein mag, überfordert. Das weiß und wusste schon immer auch
Poschardt, der trotz aller Neoliberalie für seine Auftritte nie auf den
Ruch linker Theorieintelligenz verzichten mochte. Ein Leben im
Brückenschlag zwischen Springer und Merve, zwischen dem materiell
lukrativen Buddytum alter Herren und dem symbolisch lukrativen (und
manchmal ziemlich rücksichtslos angeeigneten) Gedankenrauch
Postachtundsechzigs: zwei starken Kollektiven, auf die gestützt eine
aufsteigende Karriere in einem absteigenden Sektor des Marktes sogar trotz
einiger Fuck-ups, wie man neudeutsch sagt, ziemlich gut geflutscht ist.
## Das Tempo nimmt ab
Jetzt ist Poschardt über fünfzig Jahre alt. Da nimmt das Tempo, so wie bei
uns allen gerade, ab. Das Buch „Mündig“ selbst ist eigentlich gar nicht so
neu, sondern zusammengewürfelt aus Versatzstücken bereits erschienener
Texte, in denen ja ohnehin, wie bei jedem vernünftigen Denker, immer
dasselbe stand. Und selbst das wirkt irgendwie müde, ritualisiert,
abgeschlafft: „Mündigmachung ist eine Beschleunigung der eigenen
Entwicklungsgeschwindigkeit.“ „Es geht eher darum, die Gefahr der Vernunft
als ABS für zunächst abwegige Gedanken oder Haltungen zu problematisieren.“
Der „mündige Intellektuelle“ nämlich ist auf der Autobahn zu Hause. „Wie
bei einem Rennwagen ist sein Fahrwerk genau einstellbar.“
Ein bisschen Abenteuerpathos für einen alt gewordenen Tiger, na gut. Aber
bieten nicht genau die Tage und Wochen, die gerade angefangen haben, die
Chance, sich neu zu sortieren? Sich breiter aufzustellen? Die core assets
abzustaken?
Wenn es stimmt und Poschardt, wie unser kluger Chefreporter Peter Unfried
in seinem Nachwort anmerkt, eigentlich gegen etwas anschreibt, das er
selbst schon lange verkörpert – den Typus des bequem gesattelten,
grünliberalen, ein bisschen dekadenten Kulturarbeiters, der ausspricht, was
seinesgleichen denkt –, wäre es da nicht langsam an der Zeit, das
anzuerkennen? Das: die Wichtigkeit der verschiedenen Kollektive (denen
beizutreten man den richtigen Stallgeruch an sich haften haben muss) zur
Absicherung des eigenen Lebens.
## Endlich wirklich was risikieren?
Und wäre es nicht außerdem an der Zeit, ausnahmsweise mal wirklich etwas zu
riskieren, statt immer nur darüber zu schreiben? Auszusprechen, was
seinesgleichen denken könnte – wenn es denn den Mut dazu hätte. Nämlich
dass wir nicht weniger, sondern mehr und andere Kollektive brauchen? Dass
die nicht Einengung bedeuten? Sondern das eigene Leben mit Diversität und
Kontingenz bereichern?
Das heißt nicht, dass man dafür alle mühsam eingeübten Stilisierungshüllen
über Nacht ablegen soll [4][oder das Auto verschrotten] (vielleicht
nächstes Jahr dann). Aber ein Gefährtwechsel kann durchaus nicht schaden.
Das scheint auch Poschardt begriffen zu haben: Er zeigt Verständnis für die
Kranken und Schwachen; sorgt sich darum, „Menschen mitzunehmen beim
ökologischen Transformationsprozess“; geißelt die „Irrungen des gierigen
Materialismus“ und die „Kollateralschäden der sozialen Marktwirtschaft“.
Klagt an: „Noch immer entscheidet die Herkunft eines Kindes zu oft über
dessen Zukunft.“ Und will selber nicht verloren gehen: „Wer die Träume der
Kindheit verliert, wird nie mehr richtig träumen können. Wahrscheinlich.
Vielleicht auch nicht. Wer weiß das schon?“
## Albtraum eines neuen, alt gewordenen Zeitalters
Ja, wer weiß das schon. Wer weiß schon, wie die Zukunft wird? Fest steht,
dass, wer 250 Seiten über „Mündigkeit“ veröffentlicht, eine Angst vor
Entmündigung zum Ausdruck bringt, die er gar nicht haben muss. Denn das
Leben in einer Gesellschaft bringt nun mal unausweichliche, tägliche
Entmündigungen mit sich. So zu formulieren ergibt aber erst dann Sinn, wenn
man sich mit der Notwendigkeit belastet, sich als immer souveränes und
selbst noch im Kontrollverlust cooles autonomes Subjekt zu begreifen. Ich
will hier nicht entmündigen, aber: „Mündigkeit“ ist eine Erfindung, die d…
zerstörerische Angst vor ihrer Infragestellung immer schon in sich trägt.
Und jetzt wird es noch ernster: Natürlich muss trotzdem jede*r Angst haben
dieser Tage. Aber wenn in Italien nun Pfleger*innen entscheiden müssen,
wer beatmet wird und wer nicht, weil es nicht genügend Geräte gibt, und
wenn das in Großbritannien und den USA unmittelbar bevorsteht, dann werden
die Alten, Kranken, Behinderten, also die, aus dem Postulat einer
„Mündigkeit“ folgend, zu Unmündigen Erklärten, zuletzt versorgt. Die
Migrantisierten natürlich auch, worauf die Spiegel-Kolumnistin Ferda Ataman
unlängst auf Twitter hinwies und prompt unter den Beschuss jenes
Justemilieuder Verächter*innen der angeblichen Unmündigkeit geriet, das
Poschardt um sich schart. Und dann wirkt das wie ein Albtraum vom neuen,
alt gewordenen Zeitalter, das in der verspäteten Nation Deutschland
spätestens mit dem grinsenden Gerhard Schröder begann und zum grinsenden
Björn Höcke führte.
Es soll hier nicht um Schuld gehen, nur darum, in sich zu gehen: Was treibt
mich an, Ideale zu vertreten, die mich bei näherem Hinsehen abstoßen
müssten? Warum möchte ich das Leid derer übersehen, die ich, auch wenn ich
nur ein kleines Rädchen im Getriebe bin und ja eigentlich auch superlieb,
noch immer so gerne verspotte? Sich diesen Fragen zu stellen, das wäre doch
schon fast wieder mündig.
28 Mar 2020
## LINKS
[1] /Umbau-im-Springer-Verlag/!5622953
[2] /Blogger-der-Welt-Don-Alphonso/!5641160
[3] https://twitter.com/Hallaschka_HH/status/1238372037762170881
[4] /Warum-sich-Gegner-Lektuere-lohnt/!5625186
## AUTOREN
Adrian Schulz
## TAGS
Ulf Poschardt
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