# taz.de -- Warum sich „Gegner“-Lektüre lohnt: Die letzten Tage der „Wel… | |
> My car is my castle – Automobile stehen für Freiheit und alles Wichtige: | |
> Was uns die Lektüre der gleichnamigen Zeitung lehrt. | |
Bild: Für viele einfach nur ein Auto, für die „Welt“ aber fabrikgefertigt… | |
Letzte Woche war ich an einem weltabgewandten Ort im Nordosten des Landes, | |
in einem Hotel, in dem es morgens nur Die Welt zu lesen gab, dafür | |
kostenlos. Also stürzte ich mich auf die journalistische Magerkost, hatte | |
ich doch selbst im August bei einem Sommerseminar über „Intellektuelle | |
Selbstverteidigung“ die Devise ausgegeben: Lies deine Gegner. | |
Es war eine erstaunliche, augenöffnende und erschreckende Erfahrung. | |
Medienschelte ist eigentlich kein Thema für das Schlagloch, aber in diesem | |
Fall offenbarte sich exemplarisch, wieso unsere Gesellschaft gelähmt ist, | |
wieso in Teilen der Bevölkerung solche Angst vor Veränderungen herrscht. | |
Schon zur Eröffnung der IAA in Frankfurt hatte sich die Zeitung | |
schlagzeilenfett auf die Seite eines offenbar bedrohten Objekts geschlagen: | |
MY CAR IS MY CASTLE. In verschiedenen Artikeln wurde das Existenzrecht der | |
Autofahrerinnen wortstark und argumentschwach verteidigt. Gerade als ich | |
las, dass das Auto durch nichts zu ersetzen sei, fuhr eine Kutsche vorbei, | |
mit zwei nostalgisch dreinblickenden Gäulen. Das Prinzip war klar: Eine | |
erfundene Bedrohung wird ins Unfassbare hochgesteigert, um sich mit Schaum | |
vor dem Mund darüber empören zu können. | |
Am Freitag dann eine fette Nachricht: [1][„WIRTSCHAFT SCHOCKIERT ÜBER | |
KLIMA-ENTWURF“]. Tatsächlich? Nein, natürlich nicht, aber Schlagzeilen | |
müssen ja auch nur der gefühlten Wahrheit entsprechen. Im Text wabert eine | |
„Unruhe in den betroffenen Wirtschaftsbranchen“, aber selbst für diese | |
eingeschränkte Behauptung gibt es KEINE Beweise, abgesehen vom Schwafeln | |
des Geschäftsführers des Bundesverbands der deutschen Heizungsindustrie, | |
dass „Verbote ins Leere gehen“. Wenn dem so ist, wieso schaffen wir das | |
Strafgesetzbuch nicht ab? | |
[2][Im Leitartikel daneben] läuft Chefredakteur Ulf Poschardt Wort-Amok: | |
„Neuroseninkubator“, „Erregungskurve“, „Hysterisierung“, „Ökojak… | |
„Denkleistungsverweigerung“, „Militanz-Biedermeier“ usw. Ein feines | |
Beispiel für Komposita in der deutschen Sprache, ansonsten ein rowdyhaftes | |
Benehmen, das man eher aus dem Straßenverkehr kennt. Auf Seite 2 ein | |
ausführliches Interview mit Björn Lomborg, der auf Technologien setzt (eine | |
Öl-Alge werde es richten) und zudem vorrechnet, dass jede Maßnahme für sich | |
allein genommen nichts bringe (eine beliebte Selbsttäuschung unter | |
Diätmuffeln). | |
Ansonsten bastelt er weiter an seiner erstaunlichen Karriere, indem er | |
wider die Vernunft löckt. Ein Beispiel: „Man könnte auch sagen, die | |
Klimaerwärmung führt dazu, dass weniger Menschen erfrieren … zudem ist es | |
leicht, Menschen vor dem Hitzetod zu schützen: Klimaanlagen. Die Menschen | |
vor einem Kältetod zu bewahren, ist viel schwieriger.“ Herr Lomborg | |
erleidet Kälteidiotie. | |
Am Samstag: [3][„Geistige Klimakatastrophe“] (gemeint ist der Protest, | |
nicht die Idee des ewigen Wirtschaftswachstums). Auf Seite 2 berichtet | |
Wolfgang Büscher von der Demonstration in Berlin. Büscher, der einst einige | |
brauchbare Bücher geschrieben hat, ist inzwischen ehrenamtlicher Sprecher | |
der Deutschen Zynikergesellschaft. Mit prophetischem Grimm verkündet er, | |
dass die Klimabewegung „auf dem Gipfel ihrer Popularität angelangt ist“, | |
später spricht er vom „Zenit des Massenerfolgs“. Offensichtlich hat der | |
Journalist wenig Ahnung von Demos, denn er mokiert sich über alles, was sie | |
per se ausmachen, über die kurzen Slogans, über die Fixierung auf die Zahl | |
der Protestierenden, über die Vielfalt der beteiligten Gruppen. | |
## Endlich mal ein vernünftiger Satz | |
Inzwischen herrscht in allen Ressorts Hysterie, weswegen selbst die | |
normalerweise lesenswerte „Literarische Welt“ ins Wochenende brüllt: | |
[4][„Droht uns der Ökoterrorismus, Mister Boyle“]. Um dann dem großartigen | |
amerikanischen Romancier einige dumm-suggestive Fragen zu stellen („Greta | |
Thunberg will, dass wir in Panik geraten“), die T. C. Boyle souverän | |
humorvoll abfedert, selbst das Beharren der Fragenden auf das | |
terroristische Potenzial des Umweltschutzes: „Mehr als potentielle | |
Terroristen fürchte ich die Regierung im Weißen Haus.“ Nach stundenlanger | |
Lektüre endlich mal ein vernünftiger Satz. | |
Am Sonntag hat man endlich ein wichtigeres Thema gefunden: „Illegale | |
Einreisen mit dem Flugzeug nehmen zu.“ Es habe einen Zuwachs beim | |
monatlichen Durchschnitt der „unerlaubt Einreisenden“. gegeben. Genau um | |
wie viel, muss der ungeneigte Leser selbst ausrechnen: 2018 waren es 857 | |
pro Monat, in diesem Jahr sind es bislang 882. Vor diesem explosionsartigen | |
Anstieg müssen natürlich alle anderen Themen weichen. Aber auf ein weiteres | |
Nachtreten will die Redaktion doch nicht verzichten: „DURCH ZWANG ZU | |
GLÜCK“. | |
Einerseits stimmt dies faktisch nicht – das Klimapaket enthält viel | |
Zuckerbrot und eine „mikroskopische Peitsche“ (heute-Show). Andererseits | |
beweist die Schlagzeile, dass Denken offensichtlich keine Stärke dieser | |
Zeitung ist. Unsere Gesellschaft besteht aus vielen Zwängen – Schulpflicht, | |
Wehrpflicht, Steuerpflicht, Gurtanschnallpflicht und anderen –, die alle | |
dem vermeintlichen Glück der Menschen dienen sollen. Die Ideologen im | |
Springer Verlag imaginieren sich eine Freiheit herbei, die sie auf den | |
Barrikaden mit ihrem Blech verteidigen. | |
All diese temperamentvollen Blockadehaltungen ergeben nur Sinn, wenn man | |
die ökologischen Bedrohungen nicht ernst nimmt, wenn man nicht wirklich an | |
Klimawandel und die fortschreitende Zerstörung der Natur glaubt. Wenn man | |
davon ausgeht, dass es irgendwie mit Wachstum und Wohlstand, mit Verbrauch | |
und Verschwendung so weitergehen kann, ad infinitum. Oder aber es handelt | |
sich um das Phänomen, das die Wissenschaft „willful blindness“ nennt – d… | |
absichtliche Verschließen der Augen. Wenn ich die Realität ignoriere oder | |
negiere, kann mich nichts aus dem gemütlichen Bett des Status quo | |
vertreiben. | |
Leider muss ich meinen sommerlichen Ratschlag präzisieren: Lies die Texte | |
deiner Gegner. Nicht zur intellektuellen Herausforderung, sondern als | |
Krankenakte. | |
28 Sep 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.welt.de/print/welt_kompakt/print_politik/article200619378/Wirts… | |
[2] https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus200600922/Weltweiter-Klimastreik… | |
[3] https://www.welt.de/print/die_welt/article200683082/Geistige-Klimakatastrop… | |
[4] https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/plus200663956/Klimaproteste-Dro… | |
## AUTOREN | |
Ilija Trojanow | |
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