| # taz.de -- Ingo Schulzes neuer Roman: Bildungsbürgers Menschenhass | |
| > Ingo Schulzes Roman „Die rechtschaffenen Mörder“ erzählt von einem | |
| > ostdeutschen Antiquar. Der möchte sein deutsches Sprachgefühl rein | |
| > halten. | |
| Bild: Ingo Schulze's Roman ist für den Leipziger Buchpreis nominiert | |
| Norbert Paulini ist ein Romanheld, der genau weiß, was er will: „Ich will | |
| eine Frau, die mich lesen lässt, die selbst nichts lieber tut, als zu | |
| lesen, die schön ist, mich aus ganzem Herzen liebt und sich viele Kinder | |
| wünscht.“ Wir ahnen schon, dass Norbert Paulini in seinem Leben wohl einige | |
| Probleme haben wird, die auf sein Frauenbild und seine rigorose Liebe zum | |
| Lesen zurückzuführen sind. | |
| Zunächst aber hat der junge Mann das große Glück, sich einen seiner | |
| Lebensträume zu erfüllen, indem er das Antiquariat seiner früh verstorbenen | |
| Mutter wiedereröffnet. Wir befinden uns Mitte 1970er Jahre in einer Villa | |
| im Dresdner Stadtteil Blasewitz, und hier entsteht mitten in der DDR eine | |
| bildungsbürgerliche Parallelwelt, in der ein resoluter Mann regiert, dem | |
| man seine Macht aber keineswegs ansieht, sieht er doch aus wie ein | |
| „Kirchendiener oder Museumspförtner“. | |
| So skurril die Hauptfigur auch wirken mag, ein anfangs noch unbekannter | |
| Ich-Erzähler bemüht sich, den Lebensweg des Antiquars halbwegs sachlich zu | |
| schildern. Das führt zu subtiler und manchmal auch kulturkritischer Komik, | |
| etwa wenn Norbert Paulini grundsätzlich werden darf: „Die meisten Leser | |
| verwechseln im kindischen Wahn Bücher mit Eiern und glauben, diese müssten | |
| stets frisch genossen werden.“ | |
| Paulini hat höchste Ansprüche an die Bücher, die über seinen Ladentisch | |
| gehen. Am liebsten möchte er nur Meisterwerke verkaufen. Nur wenige | |
| Neuerscheinungen stehen in seinen Regalen, was die Kundschaft nicht weiter | |
| stört. Bald finden sogar Lesungen in der Villa statt. | |
| ## Als die Mauer fällt, wird der Mann noch radikaler | |
| Ein literarischer Salon entsteht, ein Ort geistiger Freiheit. So sieht es | |
| jedenfalls Paulini, der sich selbst nach den berühmten Nietzsche-Liedern | |
| „Prinz Vogelfrei“ nennt und der vom Publikum in den späten Achtzigern als | |
| Widerständler gegen die realsozialistische Obrigkeit gefeiert wird. Selbst | |
| dann noch, als er ankündigt, „er werde sich fortan als Leser allein der | |
| deutschsprachigen Literatur widmen, um sich sein Sprachgefühl rein zu | |
| bewahren“. | |
| Was von seinen Kunden und Freunden anfangs noch als Schrulle wahrgenommen | |
| wird, schlägt gegen Ende der DDR in einen handfesten Nationalismus um. Als | |
| die Mauer fällt und mit der gesellschaftlichen Funktion auch die | |
| Geschäftsgrundlage des Antiquariats verschwindet, wird der Mann noch | |
| radikaler. | |
| Über das Ende der SED-Diktatur hatte sich der Antiquar noch gefreut, doch | |
| schon wenige Jahre nach der deutschen Einheit läuft auch für ihn nichts | |
| mehr nach Plan: Die Gattin, die sich als Friseurin und Geschäftsfrau | |
| behaupten kann, wird als Stasi-Spitzel enttarnt – woraufhin Paulini sich | |
| scheiden lässt. Dann muss er auch noch die angestammte Villa verlassen, | |
| weil Alteigentümer aus dem Westen auftauchen und seine Bilanzen ohnehin | |
| nicht mehr stimmen. | |
| Paulini kann sich in Dresden keine Miete mehr leisten und verzieht sich in | |
| die sächsische Provinz. Er fühlt sich als eine Art Kulturflüchtling im | |
| eigenen Land, was seine Egomanie und Gehässigkeit gegenüber Fremden noch | |
| verstärkt. Die Migranten, die ins geeinte Deutschland kommen, will er | |
| verjagen. Selbst wenn er einen bosnischen Flüchtling für sich schuften | |
| lässt. Die eigenen Widersprüche erkennt er nicht. | |
| ## Ein Bruch im literarischen Tonfall | |
| Der 1962 in Dresden geborene Schriftsteller Ingo Schulze schreibt in seinen | |
| Erzählungen und Romanen immer wieder über die gesellschaftlichen, | |
| politischen und seelischen Folgen der deutschen Wiedervereinigung. Einem | |
| breiteren Publikum wurde er mit seinem Erzählband „Simple Storys“ bekannt, | |
| der gerade wegen seiner literarischen Genauigkeit gelobt wurde. | |
| Was die Kunst der Beobachtung angeht, weiß Schulze mit „Die rechtschaffenen | |
| Mörder“ durchaus an sein Erfolgsbuch anzuknüpfen. Im neuen Roman | |
| präsentiert sich der Schriftsteller aber nicht nur als Kenner | |
| deutsch-deutscher Befindlichkeiten, er ist auch in der Lage, die aktuelle | |
| Verwerfungen literarisch wie zeithistorisch überzeugend darzustellen. | |
| Was nämlich als amüsante Novelle über einen eigensinnigen und weltfremden | |
| Büchermenschen begann, entwickelt sich zum Abgesang auf eine Gesellschaft, | |
| in der rechtsextremer Menschenhass sogar aus dem Geist feinsinniger | |
| Literatur entstehen kann. Doch damit endet der vielfach gelungene Roman | |
| keineswegs, sondern nur der erste Teil. Denn nun verschiebt sich die | |
| Erzählperspektive. | |
| Im Mittelpunkt steht jetzt jener Ich-Erzähler, ein Schriftsteller namens | |
| Schultze, der im Hause Paulini verkehrte und dort auch seine große Liebe | |
| Lisa kennenlernte: „Mit Lisa sah ich mich selbst und die Welt anders. Ich | |
| wunderte mich über die Leichtigkeit, die es bedeutete, eine Frau zur Seite | |
| zu haben, die wusste, wie man aufgewachsen war, eine, die frei ist von der | |
| natürlichen Verachtung des Westens gegenüber dem Osten.“ | |
| Im zweiten Romanteil ändert sich also nicht nur der Blickwinkel, sondern | |
| auch der literarische Tonfall. Die Ich-Erzählung ist von weltanschaulichen | |
| Erklärungen und Suchbewegungen geprägt. Nicht selten möchte man | |
| zurückblättern und nachschauen, ob das Klischee wirklich in derart | |
| ungebrochener Form niedergeschrieben wurde. Was heißt schon „natürliche | |
| Verachtung des Westens gegenüber dem Osten“? | |
| ## Politische Gewissheiten in Frage stellen | |
| Je mehr wir über diesen Autor erfahren, desto weniger trauen wir ihm als | |
| Erzähler. Zumal er auch noch so ähnlich heißt wie der Schriftsteller Ingo | |
| Schulze, nur dass die Erzählerfigur mit „tz“ geschrieben wird. | |
| Das Namensspiel gehört zur literarischen Strategie dieses wendungsreichen | |
| Romans, der im besten Sinne verunsichern möchte und sehr geschickt | |
| literarische und politische Gewissheiten in Frage stellt. Ingo Schulze | |
| lässt seine Schriftstellerfigur nämlich eine Novelle über Paulini | |
| schreiben, vermutlich jenen Text, der den ersten Teil in „Die | |
| rechtschaffenen Mörder“ ausmacht und der ohnehin von einigen | |
| Merkwürdigkeiten geprägt ist: Sind die abrupten Satzabbrüche, die | |
| eingebauten Fehler etwa ein Hinweis darauf, dass hier ein Autor nicht | |
| fertig geworden ist mit seinem Werk? Solche Schnitzer würden Ingo Schulze | |
| (und seinem Lektor) bestimmt nicht unterlaufen, dem etwas unsicheren | |
| Schultze aber schon. | |
| Nicht nur stilistische, sondern auch inhaltliche Fragen stellen sich: Wie | |
| gerecht, wie einseitig wurde der Antiquar überhaupt dargestellt? Die | |
| Glaubwürdigkeit des Ich-Erzählers wird im abschließenden und wirklich | |
| überraschenden dritten Teil vollends erschüttert. Darin begibt sich die | |
| westdeutsche Lektorin des Paulini-Biografen auf literarische Spurensuche. | |
| Denn der Antiquar, der eine Veröffentlichung über sich partout verhindern | |
| will, ist plötzlich von einem Felsen gestürzt, und zwar gemeinsam mit Lisa. | |
| Die Lektorin möchte wie wir Lesende natürlich wissen, ob es sich um einen | |
| erweiterten Suizid handelt oder um Mord, und in welcher Weise ihr | |
| Schützling Schultze darin verwickelt ist. Der Roman wird tatsächlich zur | |
| lehrreichen Spannungslektüre. Denn der Kriminalfall, der ein Rätsel bleibt, | |
| ist auch als politische Parabel zu lesen, und zwar über die Macht einer | |
| Erzählung, die private wie gesellschaftliche Verhältnisse oft | |
| eindimensional beschreibt. | |
| ## Er hält uns einen Spiegel vor | |
| Mit „Die rechtschaffenen Mörder“ hält uns Ingo Schulze einen literarischen | |
| Spiegel vor die Nase und fragt uns, mit welchen Ressentiments wir selbst | |
| einem anderen, vielleicht sogar unverständlichen Lebensweg begegnen. Dieser | |
| so klug gebaute Roman erinnert uns an die vielen Erzählschablonen, die | |
| unseren Alltag prägen, an die angestaubten Begriffe, die nicht taugen, um | |
| die Widersprüchlichkeit der Menschen zu erfassen. Rechtschaffenheit etwa, | |
| so das altertümliche Wort im Titel, war und ist kein Hinderungsgrund, | |
| schlimme Dinge zu denken oder zu tun. | |
| Das Buch kann vordergründig auch als biografische Recherche mit viel | |
| Lokalkolorit und parodistischen Passagen über die Kulturszene in der DDR | |
| gelesen werden. Zuweilen fühlt man sich an jenes radikalpatriotische | |
| Bildungsbürger-Milieu erinnert, [1][zu der auch die Dresdener Buchhändlerin | |
| Susanne Dagen gehört]. | |
| Doch das Buch sollte nicht als Persiflage auf reale Personen verstanden | |
| werden. Es handelt sich auch nicht um einen ironischen Erinnerungsroman, | |
| sondern vielmehr um ein raffiniertes Spiegellabyrinth, dessen Ausgang aus | |
| guten Gründen nicht leicht zu finden ist: Wir sollen möglichst lange | |
| herumirren in diesem Text, wir sollen uns wiedererkennen und uns fragen, | |
| inwieweit unsere Meinungen, Urteile und Ressentiments irgendwas zur | |
| Aufklärung beitragen. | |
| Ingo Schulze erzählt dabei nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, seine | |
| Kritik des Eindimensionalen ist immer auch eine Selbstbefragung. Auch | |
| deshalb wird aus diesem Roman dereinst zitieren, wer unsere Epoche | |
| verstehen will. Denn gute Bücher sind tatsächlich keine Eier, die nur | |
| frisch genossen werden sollten. | |
| 5 Mar 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Carsten Otte | |
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