# taz.de -- Neues Konzeptalbum von Grimes: Alles Tesla, oder was? | |
> Eine eigene Ästhetik, aber zu viel Konzept: Die kanadische | |
> Elektroniksirene Grimes verhebt sich mit ihrem neuen Album „Miss | |
> Anthropocene“. | |
Bild: Ihr Album „Visions“ von 2012 prägte eine ganze Generation: Die Musik… | |
Man muss die FAZ für ihre Beißreflexe lieben: „Er baut Raumschiffe, sie | |
faselt vom Ende der Kunst durch Künstliche Intelligenz“, hieß es dort | |
kürzlich über die kanadische Sängerin Grimes und ihren [1][irgendwie | |
weltbekannten Freund, Elon Musk, of Tesla-Fame]. | |
Der Reichtum an verfehlten Implikationen in diesem einen Satz ist schon | |
beachtlich, zwischen den Zeilen des Artikels wurde gar der Vorwurf laut, | |
dass die 31-jährige Claire Boucher (so heißt Grimes mit bürgerlichem Namen) | |
bitte schön ihren Lebensabschnittsgefährten zügeln solle; immerhin hingen | |
Aktienkurse an seinen Verfehlungen. | |
Das offenbart ein durch neoliberale Ideologie verzerrtes Weltbild, denn | |
Grimes’ drittes Album – übrigens ihr Durchbruch –, „Visions“ (2012),… | |
für eine ganze Generation sehr viel bedeutender gewesen, als die Tatsache, | |
dass sich reiche Bärte-Somethings teure Tesla-Schlitten leisten. Grimes’ | |
Musik wirkte wie Ibuprofen: Was zunächst keine Wirkung zeigt, schlägt mit | |
Verzögerung umso voller ein. | |
„Visions“ war ein künstlerisches Manifest über die Zukunft der | |
Musikproduktion: abseits von festen Vertriebsstrukturen, losgelöst von | |
Aufnahmestudiokomplexen, eher do it yourself. Eine Compilation als | |
Millennial-Sound. Das mussten ältere Semester (Jahrgang 83 und früher) | |
nicht verstehen, doch es war Musik von einer Künstlerin, die noch nicht | |
volljährig war, als YouTube erfunden wurde, die Musik machte für Kids, die | |
mit und in sozialen Medien groß wurden. | |
Grimes’ Werk „Visions“ war eine Art „Twin Peaks“ für Digital Natives… | |
Erwartungshaltung, die sich daraus ergab, [2][konnte Grimes bei ihrem | |
Nachfolger „Art Angels“ kaum befriedigen]; deswegen nahm sie sich für ihr | |
neues Werk auch glatte fünf Jahre Zeit. | |
## Opus Magnum zum Anthropozän | |
„Miss Anthropocene“ ist nun auch wieder nichts weniger als ein Konzeptalbum | |
über die Auslöschung der Menschen geworden. Im Albumtitel offenbart sich | |
schon der Aufhänger dieses Opus magnum: Das Anthropozän, jenes aktuelle | |
Erd-Zeitalter, welches geprägt ist durch die Formung unseres Planeten aus | |
Menschenhand. | |
Zehn verschiedene Inkarnationen der „Miss Anthropocene“ treten auf: Sie ist | |
eine anthropomorphe Gestalt, die Phobos und Deimos (Angst und Schrecken) | |
aus der griechischen Mythologie ins digitale Zeitalter beamt. In der | |
Single-Auskopplung „Delete Forever“ schrammelt sie dafür in bester | |
Lagerfeuer-Sing-Kultur auf ihrer Gitarre. | |
Sie betrauert den Tod des Kollegen Lil’ Peep. Der Rapper starb 2017 an | |
einer Überdosis; das Szenario für den Song ist die schwelende Opiat-Krise | |
in den USA, Tausende Drogentote jedes Jahr und die Progression der | |
Abhängigkeitszahlen. | |
Obschon auch auf „Delete Forever“ das Titelthema durchgezogen wird, sprengt | |
die Nummer die sonst homogene Sound-Kost, die die HörerInnen stets als | |
Grimes-Sound erkennen: Cyberpop, mal mit verspulten Gitarrenlicks (im | |
Auftaktsong „So Heavy I Fell Through the Earth“), mal als EDM-Dance-Happen | |
gedacht („Violence“), dann wiederum als mittig klingender | |
Millennial-Radiohit angelegt, kaum zu unterscheiden von Katy Perry („You’ll | |
Miss Me When I’m Gone“). | |
## Teils abgeschmackt, wenig innovativ | |
Das hat bei weitem nicht mehr die Durchschlagskraft von „Visions“, wirkt | |
teils abgeschmackt und kaum innovativ. Andererseits sind | |
Grimes-Produktionen auch immer Kleinode, die sich beim wiederholten Hören | |
als lupenreine Popsongs erweisen. Gerade „So Heavy I Fell Through the | |
Earth“ ist – befreit vom Konzeptquatsch – erfrischend-zeitgenössische | |
Musik, die durch den extremen Einsatz des Kompressors eine eigene Ästhetik | |
entwickelt und dadurch sogar an kalifornische Soundtüftler wie Knwledge | |
erinnert. | |
Aber wer wie Grimes konzeptuell arbeitet, muss sich auch daran messen | |
lassen. Das Thema „Anthropozän“ ist zwar super aktuell, aber die Umsetzung | |
von Grimes bestenfalls larifari, da die Lieder nicht einhalten, was | |
versprochen wurde. „Miss Anthropocene“ ist bloß Ausdruck von Teenage-Angst | |
im neuen Jahrzehnt. | |
Diese hätte man auch abseits anthropomorpher Dämoninnen als solche benennen | |
dürfen. Während Grimes also versucht, Kunst in die Gegenwart zu hieven – | |
und sich dabei verhebt –, lässt ihr Freund einen Wald in Brandenburg roden | |
… so wird ein Schuh draus, liebe FAZ. | |
22 Feb 2020 | |
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## AUTOREN | |
Lars Fleischmann | |
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