| # taz.de -- Faschismus im Roman: „Wir sind in der Phase der Angst“ | |
| > Mit seinem Buch über Mussolini hat Antonio Scurati Italien dazu gebracht, | |
| > endlich über den Faschismus zu reden. Und über Parallelen zu heute. | |
| Bild: Mussolini am Strand: „Politik in der Epoche der Massen“ | |
| taz: Herr Scurati, Ihr 800-Seiten-Roman „M. Der Sohn des Jahrhunderts“, der | |
| jetzt auf Deutsch erscheint, ist nur der erste Teil einer Tetralogie | |
| [1][über den italienischen Diktator Benito Mussolini]. Wie geht es einem | |
| damit, wenn man weiß, die nächsten Jahre wird man sich ausschließlich mit | |
| jemandem beschäftigen, der so viel Elend und Zerstörung über die Menschheit | |
| gebracht hat? | |
| Antonio Scurati: Das hat mir durchaus Probleme bereitet, das muss ich | |
| ehrlich sagen. Als ich den ersten Teil beendet hatte, ging es mir überhaupt | |
| nicht gut. Ich hatte leichte Symptome dissoziativer Abspaltung, die ich mir | |
| nicht so recht erklären konnte. Ich bin dann zu meinem Hausarzt gegangen, | |
| und der hat mich gefragt: „Womit beschäftigst du dich denn so in letzter | |
| Zeit, woran arbeitest du?“ Und als ich geantwortet hatte, meinte er: „Du | |
| willst mir sagen, dass du seit fünf Jahren im Kopf von Mussolini steckst | |
| und dich nun wunderst, dass du dich krank fühlst?“ | |
| Guter Arzt. | |
| Ja. Aber ich muss eben auch sagen, dass ich mich in meiner Karriere als | |
| Schriftsteller schon immer sehr davon angezogen gefühlt habe, das Böse zu | |
| erzählen. Und wahrscheinlich nicht nur ich. Und mir war auch vollkommen | |
| klar, dass ich, wenn ich den Faschismus erzähle, das Böse erzähle, das Böse | |
| in der Geschichte und die Gewalttätigkeit der Geschichte. Aber ich bin auch | |
| mit dem Enthusiasmus des Schriftstellers, des Künstlers an die Sache | |
| herangegangen, den die ethischen und politischen Herausforderungen dieses | |
| Stoffs gereizt haben, etwas, das noch nie jemand versucht hat. Und | |
| natürlich bin ich überzeugt, dass, indem ich das Böse erzähle, ich etwas | |
| Gutes bewirken kann. | |
| Ihr Buch ist jetzt bereits in die 21. Auflage gegangen. Was ist das für ein | |
| Italien, das Ihr Buch verschlingt? Ein ängstliches oder ein eher | |
| optimistisches? | |
| Ganz sicher eines, das mehr Angst hat. Aber auch eines, das nach seinen | |
| Wurzeln sucht. Denn Italien hat sich nie tiefgehend mit dem Faschismus | |
| auseinandergesetzt, jedenfalls nicht jenseits der Fachwelt. Und jetzt | |
| können die Italiener sich in Form eines Romans, in einer demokratischen | |
| Form, darüber informieren. Und gleichzeitig versuchen die Menschen | |
| natürlich durch die Erzählung der Vergangenheit Rückschlüsse auf die | |
| Gegenwart und die Zukunft zu ziehen, die sie erschrecken und ängstigen. | |
| Politiker schreiben mir, dass sie das Buch als eine Art Vademecum nutzen, | |
| um sich im Hier und Heute zu orientieren. | |
| Sind das eher linke oder rechte Politiker? | |
| Eher von links, aber auch von der Lega, jedenfalls diejenigen, die etwas | |
| gebildeter sind als der Durchschnitt. Dass auch Rechtsradikale das Buch | |
| lesen, ist für mich übrigens ein Zeichen, dass mein literarisches Konzept | |
| aufgegangen ist. Denn ich wollte Mussolini und den Faschismus von innen | |
| erzählen, ohne mich von politisch-ideologischen Filtern einschränken zu | |
| lassen, auch wenn ich selbst von meiner Herkunft und Bildung Antifaschist | |
| bin. Ich glaube, dass auf diese Art beim Leser die Verdammung dessen, für | |
| das Mussolini steht, viel stärker sein wird. Und wenn ich mir die | |
| Leserkommentare ansehe, dann haben 99 Prozent das Buch als Übung in | |
| Demokratie gelesen – und das eine Prozent, das sich mit Mussolini | |
| identifiziert, die waren schon vorher Faschisten. | |
| Sie beschreiben, wie Mussolini durch das Spalier seiner Fans zum Strand | |
| geht, mit nacktem Oberkörper. [2][Das erinnert doch sehr an den | |
| Strandwahlkampf von Lega-Chef Matteo Salvini im Sommer 2019.] Aber Sie | |
| haben die Szene ja offensichtlich sehr viel früher geschrieben. Ist das in | |
| Ihrem Sinne, wenn ich als Leser diese Aktualisierung vornehme? | |
| Ob das in meinem Sinne ist oder nicht, spielt gar keine Rolle. Niemand kann | |
| sich jahrelang mit einem literarischen Projekt beschäftigen und dabei der | |
| Tagesaktualität hinterherlaufen. Als ich angefangen habe zu schreiben, war | |
| noch Matteo Renzi an der Macht, niemand hat mit Salvini gerechnet. | |
| Sie wollten mit „M.“ keine Allegorie auf Salvini oder andere rechte Leader | |
| schreiben? | |
| Auf keinen Fall. Natürlich gab es diese Entsprechungen, die Sie | |
| beschreiben, als das Buch erschien. Ich habe sogar daran gedacht, ob ich | |
| für eine Zeitung eine Art Tagebuch Salvini/Mussolini machen soll, was ich | |
| dann zum Glück gelassen habe. Aber Salvini sagte wirklich jeden Tag etwas, | |
| was an Mussolini erinnerte. Entscheidend ist aber etwas ganz anderes: Als | |
| Mussolini begann, seinen Körper öffentlich auszustellen, tat er etwas | |
| Epochales im Feld der politischen Kommunikation. Den Körper ins Zentrum zu | |
| stellen, das ist, ob bewusst oder unbewusst, eine Lektion, die alle | |
| populistischen Führer seitdem von Mussolini übernommen haben. Es geht um | |
| einen Diskurs, der nicht über Rationalität funktioniert. | |
| Mussolini war aber muskulös, Salvini hält seinen Bauch in die Kameras. | |
| Das ist genau das, was wir versnobten linken Intellektuellen nicht | |
| verstehen. Schau mal den dicken Salvini, schau mal den komischen Trump – | |
| darum geht es nicht. Sie kommunizieren über den Körper. All diese | |
| merkwürdigen Bewegungen, die pure physische Erscheinung bewirken, dass | |
| Körper mit Körpern sprechen. Nicht alle Menschen sind akademisch gebildet, | |
| aber alle haben einen Körper. Das ist die geniale Erkenntnis Mussolinis – | |
| wie die Politik in der Epoche der Massen funktioniert, im Unterschied zu | |
| den alten Eliten, wo die Machtausübung im Verborgenen abläuft. Und was | |
| jetzt wiederkommt, das ist nicht der Faschismus von Mussolini, sondern der | |
| Populismus. | |
| Aber sind es nicht die Eliten, die dafür sorgen, dass sogenannte Populisten | |
| und Faschisten überhaupt Erfolg haben? | |
| Ich wünschte, das Verhältnis von Großkapital und populistischen Führern | |
| wäre so klar. Die italienischen Industriellen hatten zu Beginn aber kein | |
| großes Vertrauen in Mussolini. Zu exzentrisch, zu radikal. Mehr Anerkennung | |
| bekam der Faschismus erst, als seine Schlägertrupps sich mit dem | |
| reaktionärsten Teil der Eliten, mit den Großgrundbesitzern verbündeten | |
| und durch Terror die Errungenschaften der sozialistischen Bewegung unter | |
| den Landarbeitern zerstörten. Aber auch da warteten die anderen zumeist | |
| noch ab. Der fortschrittliche Teil der Industrie verbündete sich erst mit | |
| dem Machthaber Mussolini, nicht mit dem Parteiführer. | |
| Sehen Sie heute gesellschaftliche Kräfte, die daran interessiert sein | |
| könnten, eine neue faschistische Machtergreifung herbeizuführen? | |
| Nein. Das führt alles in die Irre und unterschätzt auch das Phänomen. Den | |
| historischen Faschismus kann man nicht vom systematischen Einsatz der | |
| Gewalt trennen als seiner ursprünglichen Matrix. Auch das ist Mussolinis | |
| Erfindung, die dann Hitler kopierte. Und sie konnten dabei zurückgreifen | |
| auf eine Generation, für die das Erleiden und die Ausübung von Gewalt, für | |
| die der massenhafte Tod und das Töten eine Grunderfahrung ihres Lebens war. | |
| Nicht nur durch den Weltkrieg übrigens, sondern auch durch die Seuche der | |
| Spanischen Grippe 1919. Heute sind wir in der Phase der Angst, die | |
| Mussolini dann zu einer des Hasses weiterentwickelte, zu einem Kult des | |
| Todes. Die große Gefahr heute ist, dass die demokratischen Regeln von innen | |
| ausgehöhlt, als „alt“, „korrupt“ und „zu verschrotten“ denunziert … | |
| und das hat in Italien schon lange vor Salvini begonnen. Es wird keinen | |
| Marsch auf Rom geben, die Populisten sind schon in Rom. | |
| Der italienischen Linken gelingt es seit der Auflösung der Kommunistischen | |
| Partei (PCI) nicht, eine Alternative zu den Populisten aufzubauen. Aktuell | |
| hoffen viele auf die „Sardinen“-Bewegung. Sie auch? | |
| Ich muss Ihnen da eine sehr pessimistische und auch unangenehme Antwort | |
| geben. Wenn ich die „Sardinen“ anschaue oder die immer noch der | |
| kommunistischen Partei nachweinenden Kader des PCI, dann sehe ich eine Welt | |
| von Kindern und von Alten, es fehlen die Erwachsenen. Wenn Sie das Manifest | |
| der „Sardinen“ lesen, dann wirkt das wie ein kitschiges linkes Gedicht. | |
| Natürlich sind mir diese jungen Leute sympathisch, wie uns allen. Aber eine | |
| politische Perspektive sehe ich nicht. | |
| 23 Feb 2020 | |
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| Ambros Waibel | |
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