# taz.de -- Widerstand in Literatur: „In Italien liegt alles offen“ | |
> Vor hundert Jahren wurde der italienische Schriftsteller und Partisan | |
> Beppe Fenoglio geboren. Bestsellerautorin Francesca Melandri über sein | |
> Erbe. | |
Bild: Der Schriftsteller und Widerstandskämpfer Beppe Fenoglio | |
taz: Frau Melandri, am 1. März werden Sie bei einer Veranstaltung in Berlin | |
[1][den Schriftsteller und Partisanen Beppe Fenoglio] würdigen anlässlich | |
seines 100. Geburtstages. [2][Für die Neuauflage seines Romans „Eine | |
Privatsache“] haben Sie auch das Nachwort geschrieben. Was bedeutet Ihnen | |
Fenoglio? Und warum sollten wir den in Deutschland wenig bekannten | |
Schriftsteller lesen? | |
Francesca Melandri: Also ich persönlich bin einfach ein bisschen verknallt | |
in Fenoglio, ich bin Team Fenoglio! Und lesen sollten ihn die Deutschen aus | |
den gleichen Gründen wie die Italiener: Fenoglio ist wahrscheinlich der | |
Schriftsteller der Epoche der resistenza, also des Widerstands gegen die | |
deutschen Nazibesatzer und die italienischen Faschisten, der sich am besten | |
gehalten hat. Denn ihm ist es gelungen, von diesem großartigen | |
Kollektivereignis auf eine zeitlose, allgemeingültige Art zu erzählen, | |
obwohl er selbst aktiver Partisan war und sehr in seiner Zeit verankert – | |
er hat schließlich für die Sache des Antifaschismus sein Leben riskiert. | |
Ist da nicht ein Widerspruch, zwischen Zeitlosigkeit und Konkretheit? | |
Das ist eben der Grund, warum man ihn am Anfang nicht verstanden, auch gar | |
nicht erst verlegt hat. Seine Bücher behandelten die resistenza als | |
menschliche Erfahrung, nicht als etwas Ideologisches. Wenn wir heute noch | |
Dante lesen, dann nicht in erster Linie, weil wir uns über die | |
Streitigkeiten der Parteien im mittelalterlichen Florenz informieren | |
wollen, sondern weil uns das Individuum interessiert, das aufgrund solcher | |
Konflikte im Exil leben muss. | |
Fenoglios Einzigartigkeit, um die ihn berühmtere Schriftsteller wie etwa | |
Italo Calvino, der auch Partisan war, beneidet haben, liegt in der Art, wie | |
er das Trauma des Krieges, aber eben auch die resistenza, diese große | |
Bewegung, die Italien seine Würde zurückgegeben hat, literarisch | |
durchgearbeitet hat. Dass der Nazismus das absolut Böse war, bedeutete für | |
ihn nicht, dass die Partisanen das absolut Gute verkörperten. | |
Sie waren Menschen: komplizierte, mangelhafte, unsympathische, jedenfalls | |
zwiespältige Wesen, wie auch die Bevölkerung, wie auch die Faschisten. Bei | |
Fenoglio gibt es dieses plötzliche Aufblitzen von Schönheit, genauso | |
plötzliche Scheußlichkeit und Gemeinheit, Feigheit. Alles gemischt – denn | |
so sind wir. | |
Und das wollte man im Nachkriegsitalien so nicht hören? | |
Ich kann die Gründe für die Entscheidung, Fenoglio nicht zu | |
veröffentlichen, nachvollziehen, auch wenn ich sie natürlich für falsch | |
halte wegen der literarischen Qualität der Texte. Jede Vision hat ihre | |
Zeit. Manche wie Fenoglio sind eben schneller. | |
Die Kulturfunktionäre der Nachkriegszeit wollten klare Verhältnisse. Denn | |
als Verbündeter Hitlers war Italiens Rolle ja doch einigermaßen | |
erniedrigend gewesen. Das war der politische Gedanke damals, aber heute | |
sind wir zum Glück und unverdienterweise weiter und können uns anders | |
einlassen auf diese Darstellung des Individuums, das in bestimmte | |
historische Umstände gerät. Und das ist natürlich auch das, was mich in | |
meiner Arbeit als Schriftstellerin interessiert. | |
[3][In Ihrem Roman „Alle, außer mir“] gibt sich der Familienpatriarch | |
Attilio Profeti als Partisan aus, in Wirklichkeit war er Faschist und | |
beteiligt an Kriegsverbrechen im kolonialen Eroberungskrieg gegen | |
Äthiopien. Ist das typisch für die Anverwandlung des Erbes der | |
Partisanenzeit in Italien? | |
Lassen Sie mich ein wenig italophil antworten. In Italien liegt immer alles | |
offen, die Mafia, die Korruption und so weiter. Auch die Wendehalsigkeit | |
der Italiener ist evident, aber ich denke nicht, dass sie größer ist als | |
die bei den Deutschen, bei all den Nazijuristen etwa, die nach dem Krieg im | |
Amt blieben. Ich arbeite seit Jahren an einem Buch über die USA. Ihre | |
Geschichte ist die einer absoluten Verdrängung ihrer historischen | |
Verantwortung. | |
Die Forschung ist da, aber der Durchschnittsamerikaner weiß nichts davon, | |
die Rassentrennung, die Lynchmorde, all das wird schulisch kaum | |
beziehungsweise erst seit Kurzem vermittelt – und konservative US-Staaten | |
verbieten diese Themen schon wieder als Unterrichtsstoff. Was Deutschland | |
seit den Debatten der 1980er Jahre an „Vergangenheitsbewältigung“ geleistet | |
hat, ist die absolute Ausnahme. | |
Wenn ich mit „Alle, außer mir“ auf Tour bin und die Leute mich fragen, | |
warum Italien sich nie seiner Vergangenheit als Kolonialmacht gestellt hat, | |
dann antworte ich immer: Weil das nie jemand macht! Das ist die Norm. Und | |
die Deutschen haben es auch nur deswegen gemacht, weil sie verloren haben. | |
Die Geschichte hat sie dazu gezwungen. | |
In Großbritannien ist die Debatte um die koloniale Vergangenheit sehr | |
lebhaft und gewiss fortgeschrittener als in Deutschland oder Italien, denn | |
die Kolonialzeit hat dort viel länger gedauert und hatte ganz andere | |
Ausmaße. Aber die Struktur der Gesellschaft hat das nicht verändert. | |
Hat Italien [4][durch die Partisanen doch noch den Krieg gewonnen?] | |
Nein. Jedenfalls nicht militärisch, das haben die Alliierten gemacht. Und | |
doch war die resistenza keine kleine Sache. Sie war wie ein Floß, auf das | |
sich die Nation gerettet hat, die moralische Rehabilitation; und sie hat | |
dazu geführt, dass die italienische Verfassung überparteilich verabschiedet | |
wurde, eine der schönsten Verfassungen, die es auf der Welt gibt. | |
Was ist denn geblieben von diesem großen antifaschistischen Aufbruch? Wie | |
geht es der Linken heute in Italien und anderswo? | |
Nette Frage! (lacht) Ich habe keine Antwort, nur ein paar Anmerkungen. Wir | |
blicken heute zurück auf 40 Jahre, in denen das Pendel der Geschichte auf | |
zumeist grausame und zerstörerische Weise in Richtung des Neoliberalismus | |
ausgeschlagen ist, dem triumphierenden Kapitalismus als einzigem Antreiber | |
der Geschichte. Damit einher ging eine Entpolitisierung und, sagen wir, | |
Hyperfinanzialisierung. | |
Die Welt funktioniert über den Profit, über den sogenannten freien Markt. | |
Die sozialen Kosten dieses Profistrebens werden auf alle umgelegt, die | |
Profite werden privatisiert. Und jetzt, mit der Pandemie, aber schon | |
vorher, ist das Pendel … – sagen wir, es steht still. Und nun fragen wir | |
uns: Wohin geht es? Vielleicht in die andere Richtung? Vielleicht | |
schneller, als wir es jetzt uns noch vorstellen können? Die früheren linken | |
Parteien, Demokraten in den USA, Labour, SPD, PD in Italien, sie sind in | |
den zurückliegenden Jahrzehnten alle mit dem Pendel gegangen. | |
Corona hat uns nun die Chance gegeben, die Dinge zu betrachten, wie sie | |
wirklich sind: Zu schauen, wer hier eigentlich leidet, wenn es ernst wird. | |
Wir nicht! Wir, die wir vor dem Computer sitzen und nicht unbedingt | |
rausmüssen. In meinem Viertel in Rom, dem Esquilin, ist die Armut | |
explodiert, die Leute brauchen kostenlose Lebensmittel – und das betrifft | |
nicht nur Migranten. | |
Und das ist doch der Ausgangspunkt für jedes Linkssein: Sich darum zu | |
kümmern, dass so wenige Menschen wie möglich leiden. Das Glück kann man | |
niemandem garantieren, aber das Leid bekämpfen – das können wir. | |
28 Feb 2022 | |
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Ambros Waibel | |
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