# taz.de -- Politisches Erdbeben in Irland: Früher IRA-Flügel, jetzt Wahlsieg… | |
> Unser Autor lebt seit über 40 Jahren in Irland. Er hat die Wandlung der | |
> Partei Sinn Féin aus der Nähe erlebt – auch durch seinen Schwiegervater. | |
Bild: Derry in Nordirland, 1972: IRA-Mitglieder beim Waffencheck | |
DUBLIN taz | Mein Nachbar kam nach der Arbeit oft zu mir und bat mich um | |
eine Tasse Kaffee, damit seine Frau den Alkohol nicht roch. Billy McAteer | |
war Katholik, seine Frau Evelyn Protestantin. Wir wohnten in einer | |
Seitenstraße der Ormeau Road in Belfast, in einem katholischen Viertel mit | |
kleinen Reihenhäusern. Die Miete war niedrig, ich zahlte 36 Pfund im Monat, | |
verdiente allerdings als Assistenzlehrer für Deutsch nur knapp hundert | |
Pfund. | |
Das war 1976, als der politische Konflikt in einer heißen Phase steckte. | |
Fast 300 Menschen wurden in dem Jahr getötet, die Hälfte davon von der | |
Irisch-Republikanischen Armee (IRA). Damals erschien es ausgeschlossen, | |
dass Sinn Féin, der politische Flügel der IRA, 30Jahre später an der | |
Regierung in Nordirland beteiligt sein würde. Noch unwahrscheinlicher war | |
es, dass die Partei zur [1][nach der Stimmenzahl stärksten Kraft der | |
Republik Irland] würde. Genau das ist bei den Wahlen vorigen Samstag | |
geschehen. | |
Die IRA war erst Ende der 60er Jahre wieder aktiv geworden, um die | |
katholischen Viertel vor den Angriffen der protestantisch-loyalistischen | |
Milizen zu schützen. Eine dieser Gruppen, die Ulster Volunteer Force (UVF), | |
erschoss Billy McAteer vor seiner Haustür, weil er mit einer Protestantin | |
verheiratet war. Billy war 40, Evelyn war zwei Jahre jünger und mit dem | |
fünften Kind schwanger. Die UVF mochte keine sogenannten Mischehen. Die | |
Mörder standen noch wochenlang im Ormeau Park auf der anderen Seite des | |
Flusses Lagan, an dem unsere Straße endete, und johlten: „Wir haben McAteer | |
getötet.“ | |
Im selben Jahr weigerte sich der inhaftierte IRA-Mann Kieran Nugent, die | |
Gefängnisuniform anzuziehen, und hüllte sich stattdessen in eine Decke. Es | |
war der Beginn des „Deckenstreiks“, der schließlich 1981 in den | |
Hungerstreik mündete, bei dem zehn Gefangene starben. | |
Bei Sinn Féin, dem politischen Flügel der IRA, setzte sich danach langsam | |
die Erkenntnis durch, dass eine politische Strategie neben dem bewaffneten | |
Kampf erfolgversprechend sein könnte. 1986 beschloss ein Parteitag, den | |
Boykott des Dubliner Parlaments aufzugeben und die Sitze einzunehmen. Der | |
Boykott des Londoner Unterhauses besteht bis heute. | |
## Mit elf Jahren Botengänge für die IRA | |
Während meiner Zeit in Belfast lernte ich John Lyons kennen, der später | |
mein Schwiegervater wurde. Er war schon als Jugendlicher in die IRA | |
eingetreten; mit elf machte er Botengänge. 1940 wurde er nach einem | |
Munitionsraub zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt, aber nach acht Jahren | |
wurde er vorzeitig entlassen und nahm seine IRA-Aktivitäten wieder auf. | |
Unter anderem machte er 1973 bei der Befreiung eines IRA-Stabschefs und von | |
dessen Stellvertreter mit, die mit einem gekaperten Hubschrauber aus einem | |
Dubliner Gefängnis entkamen. Freitags gingen John und ich immer in den Pub, | |
manchmal brachte er alte Kampfgefährten mit. | |
„Sinn Féin und IRA haben immer viel zu sehr Fianna Fáil vertraut“, hatte | |
John einmal gesagt. Diese Partei habe ihre Prinzipien stets verraten, es | |
sei ihr immer nur um die Macht gegangen. Fianna Fáil hatte sich zwar von | |
der IRA abgespalten, weil sie den Friedensvertrag mit England nach dem | |
Unabhängigkeitskrieg 1922, der die Insel teilte, nicht akzeptierte, aber | |
schon wenige Jahre später saß sie im Parlament der Republik, die ja ein | |
Produkt der Teilung war. Aus dem Teil der IRA, der für den Vertrag war, | |
entwickelte sich Fine Gael. | |
Beide Seiten fochten einen Bürgerkrieg aus, der die Nation und sogar | |
Familien spaltete. Am Ende behielten die Vertragsbefürworter die Oberhand. | |
Da die Iren ein langes Gedächtnis haben, wird bei vielen das Wahlverhalten | |
dadurch bestimmt, auf welcher Seite der Opa gekämpft hat. Eine offizielle | |
Koalition der beiden Parteien kommt deshalb nicht infrage, denn das würden | |
die meisten als Verrat empfinden – auch wenn sich die Parteien in ihrer | |
konservativen Ausrichtung kaum unterscheiden. | |
Sie haben Irland seit der Unabhängigkeit abwechselnd regiert. Selbst | |
Korruptionsskandale wurden an der Wahlurne nicht bestraft. Sicher, eine | |
absolute Mehrheit gab es schon lange nicht mehr, aber mithilfe der Grünen | |
oder der Labour Party blieb man an der Macht. Die Juniorpartner wurden bei | |
den nächsten Wahlen abgewatscht, die großen Parteien hingegen nicht. Es war | |
zum Haareraufen. | |
Irland war damals fest in der Hand der katholischen Kirche. Sie bestimmte, | |
was erlaubt und was verboten war – bis hin zur Zensur von Büchern und | |
Filmen. In sozialen Fragen hat sich Irland jedoch in den vergangenen 30 | |
Jahren stark verändert, nicht zuletzt weil sich die Kirche durch ihre | |
pädokriminellen Machenschaften selbst demontiert und ihren Anspruch als | |
moralische Instanz verspielt hat. Verhütungsmittel sind überall erhältlich, | |
Homosexualität wird nicht mehr bestraft, [2][Scheidung], | |
gleichgeschlechtliche Ehe und [3][Abtreibung sind legalisiert]. Es gab für | |
uns viele Anlässe, zu feiern. | |
Nur in der Politik tat sich nicht viel: Die beiden etablierten Parteien | |
stellten noch immer die Regierung. Es gab eigentlich keinen Grund zu der | |
Annahme, dass sich das bei den Wahlen am vergangenen Samstag ändern würde. | |
Das tat es aber, und wie. Sinn Féin gewann mehr Erststimmen als alle | |
anderen Parteien und erhielt 37 Sitze – genauso viele wie Fianna Fáil, die | |
aber zusätzlich den Parlamentssprecher stellt, der automatisch gewählt | |
wurde. Die Grünen vervierfachten ihren Anteil auf 12 Sitze. Endlich erlebte | |
ich das politische Erdbeben, auf das ich kaum noch zu hoffen gewagt hatte. | |
Es waren die jungen Leute, die dafür gesorgt haben. Ihnen waren Themen wie | |
Obdachlosigkeit, irrsinnige Mieten und das kaputte Gesundheitssystem | |
wichtiger als Loyalitäten aus Bürgerkriegszeiten. Das macht Hoffnung auf | |
eine mittelfristige Abkehr von den etablierten Parteien. Und trotz | |
Einwanderung, sozialer Missstände und stetig breiter werdender Schere | |
zwischen Arm und Reich hat es keinen Aufschwung von Nazi-Parteien gegeben. | |
Die Irish Freedom Party, Anti-Corruption Ireland und die National Party | |
kamen gar nicht aus den Startlöchern, für keine von ihnen war ein Mandat in | |
Sichtweite. | |
Die anstehenden Regierungsverhandlungen werden Wochen dauern. Und wenn man | |
sich nicht einigen sollte, könnte es Neuwahlen geben. Für Sinn Féin wäre | |
das durchaus vorteilhaft, hat man doch das eigene Potenzial unterschätzt | |
und nicht genug Kandidaten aufgestellt. So wurde mindestens ein halbes | |
Dutzend Sitze verschenkt, vermutlich sogar mehr. Fianna Fáil und Fine Gael | |
dürften alles daransetzen, Neuwahlen zu verhindern, denn bei der jetzigen | |
Konstellation braucht man wohl eine der beiden Parteien für eine Regierung. | |
Ich fürchte, dass alles auf eine Koalition von Sinn Féin mit Fianna Fáil | |
hinausläuft – mit Unterstützung einer der kleineren Parteien. Die Worte | |
meines Schwiegervaters, der Sinn Féin vor Fianna Fáil warnte, sind so | |
aktuell wie damals. | |
14 Feb 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ralf Sotscheck | |
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