# taz.de -- Anna Burnsʼ Roman „Milchmann“: Der Grusel des Vagen | |
> In Zeiten der Verrohung seien misshandelte Frauen ein Kollateralschaden: | |
> Anna Burns erzählt vom Nordirlandkonflikt und sexualisierter Gewalt. | |
Bild: Wurde 1962 in Belfast geboren: Anna Burns | |
Eines Nachts schlachten sie alle Hunde ab. Weil die Tiere Schutz | |
versprechen, für Treue und Ordnung stehen, streifen die Militärs des | |
verfeindeten Landes durch die Nachbarschaft, schneiden allen Hunden die | |
Kehle durch und stapeln sie auf dem zentralen Platz des Bezirks zu einem | |
riesigen Berg. | |
Der große Hundemord, erinnert sich die Erzählerin in Anna Burns’ Roman | |
„Milchmann“, war „makaber und spektakulär“ – tote Katzen hingegen si… | |
keine große Sache: Weil sie als „link, pechbringend, das Weibliche | |
symbolisierend“ gelten, lassen die Männer ihre Wut an ihnen aus. In Zeiten | |
der Verrohung, das wird schnell klar, sind misshandelte Frauen ein | |
Kollateralschaden. | |
Als erste Autorin aus Nordirland gewann [1][Anna Burns für „Milchmann“ 2018 | |
den Man Booker Prize.] Sie wurde 1962 in Belfast geboren, sieben Jahre vor | |
Ausbruch des Nordirlandkonflikts, der das Land bis in die späten Neunziger | |
beherrschen sollte. Ihr Heimatbezirk Ardoyne, ein katholisch geprägtes | |
Arbeiterviertel, war eine Hochburg der irischen Nationalisten. Mit | |
Bombenanschlägen und bewaffneten Morden kämpften paramilitärische | |
Organisationen wie die IRA für die Loslösung vom protestantischen England. | |
„Milchmann“ erzählt die Geschichte der „Mittleren Schwester“, einer | |
namenlosen 18-Jährigen in einer namenlosen Stadt, die Belfast nachempfunden | |
ist. Die Handlung setzt ein, als der Milchmann in ihr Leben tritt. „Ich | |
wusste nicht, wessen Milchmann er war. Unserer jedenfalls nicht. Ich | |
glaube, er war niemandes Milchmann“, erzählt Mittlere Schwester. Ein | |
Hinweis auf die wahre Identität des Fremden findet sich in Burns’ 2001 | |
erschienenen Roman „No Bones“: In dem stellt die IRA zu Zeiten des | |
Konflikts Benzinbomben in Milchkisten vor den Häusern der Einwohner | |
Belfasts ab. | |
Der Milchmann, ein unheimlicher, nicht zu greifender Typ, stellt der | |
Erzählerin nach. Obwohl sie nichts von ihm wissen will, dichtet ihr die | |
Nachbarschaft eine Affäre mit ihrem 23 Jahre älteren Stalker an. Im Klima | |
der Paranoia steht Mittlere Schwester als junge Frau unter besonders | |
strenger Beobachtung: Wo sie auftaucht, hört sie in den Büschen die Kameras | |
klicken. Hilfe kann sie von keinem erwarten. | |
## Paramilitärischer Rockstar | |
Die Mutter mag ihr nicht glauben, ihren wenigen Vertrauten will sie die | |
Konfrontation mit dem Milchmann nicht zumuten – immerhin ist er ein | |
einflussreicher Paramilitär, der von den abenteuerlustigen Frauen im Bezirk | |
wie ein Rockstar verehrt wird. | |
Immer wieder verlässt Burns das Romangeschehen, um die Mentalität in ihrem | |
literarisierten Viertel Ardoyne zu beschreiben. Es ist eine bornierte, in | |
Angst erstarrte Gemeinschaft, in der nicht sein kann, was nicht sein darf. | |
Im Französischunterricht geraten die Anwohner in Streit mit der Lehrerin, | |
weil sie ihnen erzählen will, der Himmel sei nicht immer blau. | |
Der Erzählerin bleibt nichts anderes übrig, als ihre Feinfühligkeit hinter | |
einer Fassade aus Ruppigkeit, Street Smartness und demonstrativer | |
Egalhaltung vor der unerbittlichen Gemeinde zu verstecken. „Der Tag, an dem | |
Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein | |
Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem | |
der Milchmann starb“: Ihr erster Satz ist ein fieser Hammer, ohne den | |
bislang kaum ein Text über „Milchmann“ auskam. | |
Natürlich auch, weil er so vieles vorwegnimmt: den Tod des Peinigers, | |
Burns’ lakonischen Ton – und ihren effektvollen Kniff, alle Figuren und | |
Orte zu anonymisieren. Die Protagonisten tragen Namen wie Atomjunge, | |
Chefkoch und Vielleicht-Freund, alle sind zurückgeworfen auf die ihnen | |
zugeschriebene Rolle. Auch das verfeindete England wird nie benannt, | |
sondern als das „Land auf der anderen Seite der See“ beschrieben. Burns’ | |
Kunstgriff lässt die historisch grundierte Geschichte klingen wie eine | |
surreale Parabel, die einen unruhig gestimmt zurücklässt. | |
## Zeitgemälde und Bildungsroman | |
Es ist dieser Grusel des Vagen, der ein plastisches Bild des Konflikts | |
entstehen lässt. Burns erzählt Zeitspezifisches von toten Geschwistern und | |
Waffenlagern – und zugleich eine ganz universelle Geschichte über | |
sexualisierte Gewalt in ihren uneindeutigsten Spielarten, über Formen von | |
Machtausübung, für die eine Jugendliche noch keine Sprache hat. „Milchmann�… | |
ist nicht nur Zeitgemälde, sondern auch Bildungsroman über das Frauwerden | |
in Krisenzeiten. | |
„Es war ganz einfach so, dass Schwager nicht verstehen können, wie sich | |
zwischen zwei Menschen etwas Nicht-Körperliches abspielen konnte. Wie alle | |
anderen verstand ich es ja selbst nicht, dieses Tun-aber-nicht-Tun, wie | |
hätte ich es also anklagen und damit den derzeitigen Status quo aufs Spiel | |
setzen können?“, fragt Mittlere Schwester zu Beginn des Romans. Als sie | |
später eine tote Katze im Straßengraben findet, nimmt sie ihren Kopf mit, | |
um ihn zu begraben. | |
12 Mar 2020 | |
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[1] /Man-Booker-Prize-fuer-Anna-Burns/!5545375 | |
## AUTOREN | |
Julia Lorenz | |
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