# taz.de -- Irland nach der Wahl: Alle Wetten sind offen | |
> Sinn Féin, das einstige Schmuddelkind der irischen Politik, ist durch die | |
> Wahl zum Königsmacher für die nächste Regierung geworden. | |
Bild: Vom Schmuddelkind zum Königsmacher – Fianna Fáil Vorsitzender Micheal… | |
Während Sturmtief „Ciara“ über die Insel tobte, fegten die irischen | |
WählerInnen jahrhundertealte politische Gewissheiten weg. Am Montagmorgen | |
erwachte Irland in einer neuen politischen Landschaft. Die radikal linke | |
[1][Partei Sinn Féin] holte einen Wahlkreis nach dem anderen, um am Ende | |
bei 24,5 Prozent zu landen. Das größte Problem dieser Partei ist, dass sie | |
unvorbereitet war auf diesen Sieg und deshalb zu wenige KandidatInnen | |
hatte, um alle Stimmen mitnehmen zu können. Sinn Féin mag bei den | |
Parlamentssitzen an zweiter oder dritter Stelle stehen. Doch das ist ein | |
Luxusproblem – fest steht, dass das einstige Schmuddelkind der irischen | |
Politik jetzt Königsmacher für die nächste Regierung ist. | |
Irland betritt politisches Neuland – mit Anklängen an die deutsche Debatte | |
über das Thüringen-Problem: Soll und darf es eine politische Zusammenarbeit | |
geben mit der Linkspartei und der AfD? Viele Deutsche, insbesondere ältere | |
WählerInnen, hadern noch immer mit der Linken, der SED-Diktatur und der | |
Mauertoten wegen. Aus ähnlichen Gründen bleibt Sinn Féin ein Tabu für viele | |
ältere irische WählerInnen, aufgrund ihrer Rolle als politischer Arm der | |
IRA. Doch nun wissen wir, dass für jüngere irische WählerInnen die Opfer | |
des Nordirlandkonflikts sekundär sind im Vergleich zu den drängenden | |
[2][sozialen Problemen] der Gegenwart. | |
Der Stimmenzuwachs für Sinn Fein ist ein Aufschrei der Empörung von | |
Menschen, die bisher, um Henry Ford zu zitieren, jede Form der Politik in | |
Irland wählen konnten, solange sie neoliberal war. Sie haben Schluss | |
gemacht mit einer Politik, die das Land in eine dreifache Krise aus | |
Wohnungsmangel, Obdachlosigkeit und schlechter Gesundheitsversorgung | |
gestürzt hat. Die WählerInnen haben das Duopol zweier konservativer | |
Parteien gestürzt, die sich seit der Gründung des Landes weniger in | |
politischen Inhalten Konkurrenz machten als durch eine lang schwelende | |
Familienfehde. | |
Die bislang regierende Partei Fine Gael des irischen Premiers Leo Varadkar | |
steht in der politischen Nachfolge von Michael Collins. 1922 unterschrieb | |
Collins einen Vertrag mit London, der den irischen Freistaat schuf und | |
Dublin weitreichende Selbstverwaltung garantierte, die einer Unabhängigkeit | |
sehr nah war. Der politische Rivale Fianna Fáil erwuchs aus den Reihen der | |
Vertragsgegner, die volle Unabhängigkeit forderten und 1937 auch | |
erreichten. Aus dem Vertrag entzündete sich ein Bürgerkrieg, der Familien | |
entzweite und tiefe emotionale und politische Narben hinterließ. | |
Die Wahl von 2020 zeigt, dass die irischen WählerInnen die | |
Bürgerkriegspolitik ebenso hinter sich lassen wollen wie das | |
[3][neoliberale Mitte-rechts-Erbe] der beiden Parteien, das zu | |
katastrophalen Entwicklungen führte. Unter der Fianna-Fáil-Regierung 2008 | |
raste Irland in voller Geschwindigkeit in den Abgrund, zugedröhnt von | |
Steuerparadies-Steroiden, billigen Krediten und einer atemberaubenden | |
Immobilienblase. Statt sich von ihren Pleitebanken zu trennen, übernahm | |
Fianna Fail im September 2008 deren Schulden mit einer törrichten | |
Nationalgarantie. | |
Als die Märkte begriffen, dass Irland nie zurückzahlen können würde, | |
mussten sich die Iren schmachvoll unter den Schirm der EU und des | |
Internationalen Währungsfonds retten. Dann floss das Geld wieder. Die | |
EU-Staaten liehen Dublin öffentliches Geld, damit es seine privaten | |
Gläubiger bezahlen konnte: amerikanische Anleihenbesitzer, englische | |
Immobilienentwickler, deutsche Rentenkassen. | |
Den Preis dafür hat Fine Gael jetzt gezahlt: Die Partei kam 2011 mit dem | |
Versprechen an die Macht, Irlands Ruf bei EU-Partnern und Finanzmärkten | |
wiederherzustellen, indem es den Rettungsschirm vorzeitig verließ. Dieses | |
Versprechen hielt die Partei, doch die ererbten Bedingungen des | |
Rettungspakets galten weiter. Varadkar zeigte wenig Interesse an den | |
verletzlichsten Mitgliedern der irischen Gesellschaft – und wandte sich | |
denen zu, die „früh aufstehen, um zu arbeiten“. | |
## Das große Verlangen nach einem Wechsel | |
Zuletzt glaubte Fine Gael fest daran, dass ihre unbeugsame Haltung zum | |
Brexit sie wieder zurück an die Macht bringen würde. Zu spät erkannten | |
Varadkar und sein Team, dass der Brexit schlicht kein Wahlkampfthema war. | |
Man schaltete flugs zurück in den Angriffsmodus gegen Sinn Féin und | |
verkündete, dass die politischen Erben der IRA die Falschen seien, um das | |
Land durch die unsicheren Brexit-Zeiten zu führen. | |
Fine Gael übersah das große Verlangen nach einem Wechsel: Ihre WählerInnen | |
kehrten deren Minderheitsregierung ebenso den Rücken wie der Partei, die | |
sie an der Macht hielt, die vermeintlichen Erzrivalen von Fianna Fail. Die | |
faktische Große Koalition, die nur nicht so genannt werden durfte, ist | |
Geschichte. Ironischerweise könnte das Wahlergebnis am Ende noch zu einer | |
echten Großen Koalition der beiden Großparteien führen. | |
Es lohnt sich, jetzt auf die Sinn-Féin-Vorsitzende Mary Lou McDonald zu | |
schauen. Noch bevor alle Stimmen ausgezählt waren, hielt sie für die alte | |
Garde zwei Nachrichten parat. Erstens: Es ist undemokratisch, die | |
Zusammenarbeit mit ihrer Partei auszuschließen. Während Fine Gael dies noch | |
immer kategorisch ausschließt, wankt Fianna Fáil bereits. Zweitens sagte | |
McDonald, ihre erste Wahl sei eine Regierung, die Irlands zersplitterte | |
Linke vereint und die zwei alten Parteien ausschließt. Dies ist aber | |
wesentlich unwahrscheinlicher als Sinn Féins Beteiligung an einer neuen | |
Regierung, die sie ins Herz der irischen Politik trägt. | |
Bleibt die Frage: Wird der politische Newcomer das System ändern – oder | |
wird das System ihn verändern? Wird Sinn Féin, wenn sich neue | |
Brexit-Handelsbeziehungen abzeichnen, auf einer Volksbefragung bestehen, um | |
Nordirlands Appetit auf Vereinigung mit dem Süden auszuloten? Oder wird die | |
Aussicht auf Macht und die Gelegenheit, die eigene Sozialpolitik | |
durchzusetzen, die nationalistischen Ambitionen der Partei zügeln? In | |
Dublin bleibt alles offen. | |
Aus dem Englischen: Nina Apin | |
11 Feb 2020 | |
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## AUTOREN | |
Derek Scally | |
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