# taz.de -- Kurd*innen im Nahen Osten: Ohne Staat | |
> Würde ein kurdischer Staat zur Destabilisierung beitragen? Quatsch. Die | |
> Region kann nur mit den Kurden stabiler werden. | |
Bild: Syrische Kurden trauern um Kämpfer, die während einer türkischen Opera… | |
Dreißig Millionen Kurden, mindestens, die größte Gruppe ohne Staat. Dreißig | |
Millionen: Atheisten, Aleviten, Christen, Juden, Eziden, Zorastrier, | |
Yaresan, Shabak, Sunniten, Schiiten. Die Hauptsiedlungsgebiete der Kurden | |
sind im Nahen Osten und erstrecken sich über Türkei, Syrien, Irak, Iran. | |
Nach Deportationen, Verfolgungen, Pogromen und Genoziden sind viele Kurden | |
nach Europa geflohen. | |
Seit es Kurden gibt, gibt es keinen Staat für sie. 1916, noch vor dem | |
Zerfall des Osmanischen Reiches, wurde im Sykes-Picot-Abkommen der Nahe | |
Osten zwischen Großbritannien und Frankreich aufgeteilt. Dabei wurde keine | |
Rücksicht auf die ethnischen und religiösen Gruppen genommen. Die Kurden | |
gingen leer aus. | |
1920 kam der Vertrag von Sèvres, der den Kurden nach Artikel 62 eine | |
Autonomie oder sogar – Artikel 64 – einen Staat in Aussicht stellte. Doch | |
mit dem Vertrag von Lausanne von 1923 waren die Autonomie und der | |
vermeintliche Staat schon wieder verschwunden. | |
Wir leben in einer Welt von Staaten. Staaten bieten die Möglichkeit, die | |
eigenen Interessen international diplomatisch zu vertreten. Ein Staat | |
bedeutet nicht automatisch Nationalismus. Für marginalisierte Gruppen | |
bedeutet ein Staat in erster Linie Sicherheit und Schutz vor Verfolgung. | |
Ein Staat garantiert die Bewahrung der eigenen Sprache, Religion und | |
Freiheit – für eine marginalisierte und verfolgte Gruppe entscheidet genau | |
das über Leben und Tod. Natürlich bedeutet ein Staat nicht gleich Friede, | |
Freude, Eierkuchen. | |
## Die Region ist schon instabil | |
Demokratisierungsprozesse sind langwierig und schwer. Demokratie ist etwas, | |
das immer wieder verteidigt werden muss (siehe Thüringen!). [1][Wäre es | |
nicht an der Zeit, nachdem sie erfolgreich gegen den IS gekämpft haben, | |
dass die Kurd*innen auch einmal eine Chance bekommen]? Oft wird gesagt, ein | |
kurdischer Staat würde zur weiteren Destabilisierung der Region beitragen, | |
sieht man sich aber die Länder an: 1. Türkei – Islamofaschismus, 2. Syrien | |
– Bürgerkrieg, 3. Irak – Failed State, 4. Iran – islamistische Diktatur: | |
Dann ist die Region alles andere als stabil. | |
Aber auch staatenübergreifend gibt es Probleme: Korruption in den | |
Verwaltungen der jeweiligen Länder, der Konflikt zwischen Schiiten und | |
Sunniten, dschihadistische Gruppen, die Terror verbreiten. [2][Die Kurden | |
waren immer die verlässlichsten Partner des Westens], sie waren im | |
Gegensatz zu anderen Kräften in der Region nie an der Vernichtung Israels | |
interessiert. | |
Ein kurdischer Staat oder autonome kurdische Gebiete würden eben nicht zu | |
weiterer Destabilisierung in der Region führen, im Gegenteil, es wäre sogar | |
die Chance zu einer Stabilisierung. Die Kurden haben in Rojava und der | |
Autonomen Region Kurdistan bewiesen, dass sie fähig sind, demokratische | |
Strukturen aufzubauen, Minderheitenrechte zu stärken und die Gleichstellung | |
der Frau voranzutreiben. | |
Deshalb kann man es nicht oft genug sagen: Stabilisierung im Nahen Osten | |
kann nur mit den Kurden erreicht werden. | |
13 Feb 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ronya Othmann | |
Cemile Sahin | |
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