# taz.de -- Vater über den Kriegstod seines Sohnes: „Das Unverständnis blei… | |
> Lutz Hoffmanns Sohn Jakob Riemer starb im Kampf für die kurdische HPG. | |
> Ein Gespräch über Politik, Ängste, Trauer und Erziehung. | |
Bild: Lutz Hoffmann im Hamburger Schanzenviertel vor dem Gafitto, das an seinen… | |
taz: Herr Hoffmann, wir haben uns an einem Graffito im Hamburger | |
Schanzenviertel getroffen, das Ihren Sohn Jakob zeigt. Was bedeutet Ihnen | |
dieser Ort? | |
Lutz Hoffmann: Freund*innen von Jakob haben es an seinem einjährigen | |
Todestag gemalt. Für mich ist es meine flüchtige Grabstätte. Ich habe | |
richtiggehend Angst vor dem Tag, an dem das Graffito mal weg ist. Beim | |
Gedanken daran zittere ich. | |
Gibt es denn in den kurdischen Bergen ein echtes Grab? | |
Wir wissen aus Erzählungen, dass er bei einem türkischen Luftangriff mit | |
fünf Mitstreiter*innen gestorben ist. Und die Leichname sind unter einem | |
nicht benannten Berg verscharrt worden. Solange wir diesen Ort nicht | |
kennen, trauere ich hier um ihn. | |
Im Netz kursiert ein Video, das Jakob unter anderem als kleinen Jungen im | |
St.-Pauli-Pulli zeigt und dann, wie er in militärischer Uniform vor einem | |
Geschütz in perfektem Kurdisch über den Freiheitskampf doziert. Bringen Sie | |
diese beiden Bilder zusammen? | |
Absolut. Das ist eine Person für mich. Ich erkenne ihn auch im zweiten Bild | |
noch wieder. Er war sprachbegabt. Und fremde Kulturen haben ihn schon immer | |
fasziniert. Das Kriegerische gefällt mir natürlich nicht so daran. | |
Sie sind Pazifist? | |
Ja. Ich bin mit meinem Bruder bei meinem Vater aufgewachsen. Der ist mit 17 | |
in den Zweiten Weltkrieg. Später hat er uns Kindern permanent von | |
Kriegserlebnissen erzählt. Wir waren gewissermaßen Psychotherapeuten für | |
unseren kriegstraumatisierten Vater. Später war ich | |
Kriegsdienstverweigerer. | |
Also keine Verleugnung seitens Ihres Vaters? | |
Er hatte Züge von Verleugnung drin, gerade bei der Schuldfrage. Im | |
Vordergrund standen aber immer einzelne Geschichten. Etwa wie irgendwelche | |
Panzer im Schnee über seine Mitflüchtenden gefahren sind. Oder wie die | |
Schwester sein Zimmer schon geräumt hatte, als er plötzlich wieder vor der | |
Tür stand. Als dann in den Siebzigern Holocaust im Fernsehen lief, konnte | |
er das alles rückblickend kaum ertragen, dass Deutschland diese Verbrechen | |
begangen haben sollte. Das war unser großer Konflikt, als ich 17 war. Eine | |
verspätete 68er-Geschichte gewissermaßen. | |
Und dann sind Sie politisch geworden? | |
Anfangs eher indirekt. Ich habe eine lange Zeit ein Aussteigerleben | |
geführt, habe in einer Höhle gelebt auf den kanarischen Inseln, war in | |
Asien unterwegs. | |
Wie lange haben Sie so gelebt? | |
Eigentlich von 21 bis Anfang 30, als Jakob geboren wurde. Da hat sich mein | |
Leben dann komplett gedreht. Jakobs Mutter wiederum ist in Tansania | |
aufgewachsen, ihr Vater war dort beruflich tätig. In all unseren Wohnungen | |
hingen immer Fotos von Massais, Originalschmuck aus Afrika. Und wenn ihre | |
Schwestern zu Besuch waren, wurde immer ein Gemisch aus Englisch, Deutsch | |
und Kisuaheli gesprochen. | |
Daher Jakobs Interesse an fremden Kulturen also. | |
Bestimmt. Mit elf berichtete Jakob mir dann immer ganz stolz, dass er in | |
kurdische und türkische Kulturvereine einfach reingelaufen ist. „Stell dir | |
vor Papa, wir waren vier Stunden in dem türkischen Kulturcafé, und die | |
waren alle so nett zu uns und haben uns Kartenspiele beigebracht!“ | |
Jakobs Interesse für Politik, kam das auch von Ihnen? | |
Wir waren zwar immer im Viertel verwurzelt, ich hatte Kontakte in die | |
Hafenstraße, auch über die Kinder, und in die Hausbesetzerszene in Berlin. | |
Aber bei mir stand ehrlich gesagt lange immer das Weltflüchtige im | |
Vordergrund. Philosophieren ja, aber keine explizite politische Agenda. | |
Später erst bin ich mit Jakob zu Gorleben-Demos. Oder bei der Initiative | |
„Moorburg-Trasse stoppen“ – da habe ich viel geholfen und Jakob war dabei. | |
Wo kamen die ersten Impulse für Jakobs Politisierung dann her? | |
Die Sozialisation im Viertel spielte da eine große Rolle. Ich erinnere | |
mich, als wir ins Schanzenviertel gezogen sind, da war Jakob acht Jahre | |
alt. Da brannten am ersten Mai unter dem Haus die Barrikaden. Und dann | |
fragte er mich natürlich, wer die Guten und wer die Bösen sind. Die Antwort | |
dort und bei ähnlichen Fragen war immer, dass das so einfach nicht zu | |
entscheiden ist. Und dass es nie so leicht ist, so etwas in Gut und Böse | |
einzuteilen. Als Zwölfjähriger hat er dann die Skateboardbahn hier hinter | |
der Roten Flora mit aufgebaut und war schwer begeistert von den Älteren. | |
Wann fing sein politisches Engagement denn an? | |
Ab 16 hat er sich dann politischen Jugendgruppen angeschlossen, die sich | |
aus seiner Schule rekrutiert haben. Am Gymnasium Allee war er auch | |
Schulsprecher, hatte mit seiner Freundin eine Schülerdemo für ein Kind | |
organisiert, das abgeschoben werden sollte. Da kamen 2.000 Leute. Und die | |
beiden waren mächtig stolz natürlich. Als er dann groß genug war, hat er | |
sich auch den 1.-Mai-Protesten angeschlossen. | |
Und darüber haben Sie miteinander gesprochen? | |
Ja. Schnell war dann Thema, dass es ihm nicht ausreicht, nur punktuell zu | |
protestieren und trotzdem sein Leben weiterzuführen in Konsum, sich zu | |
betrinken oder zu bekiffen, wie es in einem Teil seines Umfelds wohl war. | |
Weitermachen wie bisher war ihm nicht konsequent genug. Und er beschäftigte | |
sich zu der Zeit intensiv mit globalen Ungerechtigkeiten, die er schier | |
nicht ertragen konnte. Dann gab es da noch zwei besondere Momente, nachdem | |
er in Kontakt mit einer deutsch-kurdischen Jugendgruppe gekommen war. | |
Nämlich? | |
Er war mit der Gruppe beim Prozess gegen den PKK-Aktivisten Ali Ihsan | |
Kitay, der wegen Spendengeldern vor Gericht stand. Mit Tränen in den Augen | |
kam er nach Hause, wütend über das paternalistische Staatsverständnis des | |
Richters und der Staatsanwaltschaft, dass der türkische Staat sehr wohl | |
Gewalt ausüben dürfe, der kurdische Widerstand gegen die eigene Vernichtung | |
aber nicht in Ordnung sei. Dass die Justiz hier der Politik offenbar | |
folgte. Dass es nicht weit her sei mit der Gewaltenteilung. Das war etwa | |
ein Jahr vor seinem Verschwinden. | |
Und der zweite Moment? | |
Einmal begegneten wir uns im Flur. Und im Vorbeigehen sagte er mir, er | |
würde jetzt am liebsten nach Kurdistan in die Berge. Das war zwei Monate, | |
bevor er das dann in die Tat umgesetzt hat. Und wie benommen habe ich ihm | |
da sogar zugestimmt und genickt: „Jakob, das würde ich am liebsten jetzt | |
auch tun.“ Im Rückblick habe ich ihm also dort vielleicht die Absolution | |
erteilt für seinen Plan. Auch wenn das so natürlich nicht gemeint war. Aus | |
seinen Augen sprach einfach so eine jugendliche Sehnsucht nach einem | |
sinnhaften, erfüllten Leben, die ich in dem Moment gut nachvollziehen | |
konnte. | |
Als er ging, hat er Ihnen vermutlich nicht Bescheid gesagt? | |
Nein, er war einfach von einem auf den anderen Tag weg. Das war am 2. | |
Januar 2014. Fünf Tage später bekam ich dann einen Anruf von ihm: Sein Pass | |
laufe ja in zwei Jahren ab, dann komme er schon wieder. Das war allerdings | |
vor dem Putsch in der Türkei. Er ging in die Kandil-Berge im | |
irakisch-iranischen Grenzgebiet, um eine sozialistische, basisdemokratische | |
Gesellschaftsform kennenzulernen. Genau wie er damals durch die Tür der | |
türkischen Kulturcafés gegangen war, wollte er jetzt dorthin. Nicht, um | |
Gewalt auszuüben, da bin ich mir ganz sicher. Damals gab es gerade | |
Friedensverhandlungen, es war alles auf einem guten Weg, dass die | |
Kurdenfrage gelöst würde. Und dann kam der Putsch und alles drehte sich | |
plötzlich um. | |
Was passierte dann? | |
Neben ihm starb bei einem türkischen Luftangriff sein bester Freund, er | |
selbst war taub für lange Zeit. Und aus diesem Kriegstrauma hat ihm niemand | |
herausgeholfen. Kurdische Genoss*innen haben ihm offenbar empfohlen, er | |
solle sich aus dem Gebiet zurückziehen. Aber er wollte das nicht, sondern | |
Rache und kämpfen. | |
Das hat er Ihnen berichtet? | |
Nein, das meiste habe ich im Nachhinein erfahren. Von ihm kam alle zwei | |
Jahre mal ein Brief. Dass sie alle Nahrungsmittel selbst anbauen und er | |
wüsste jetzt, wie das geht, dass er viel liest, dass die Adler über ihm | |
kreisen und er auf den Bergen hockt, dass das ein pures Naturerlebnis ist, | |
sieben Meter Schnee. Ein wenig ähnelte die Geschichte dem Buch von Jon | |
Krakauer „Into the Wild“. Das war aber vor seinem Kriegstrauma. Dann wurden | |
die Briefe ideologischer, auch befremdlicher. Eigentlich hatten wir ihn ja | |
zu differenziertem Denken erzogen, hier spürte man dann auch die | |
ideologische Engführung der PKK durch. | |
Und hat er seinen Racheplan dann umgesetzt? | |
Ja, vermutlich. Aus Erzählungen haben wir zumindest erfahren, dass er mit | |
dem Gewehr seines gefallenen Freundes in die umkämpften Gebiete zog. Dort | |
war er auch in Kampfhandlungen mit dem türkischen Militär verwickelt. | |
Sicherlich auch mit Toten auf beiden Seiten. Was aus meiner Sicht beides zu | |
beklagen wäre. | |
Werfen Sie ihm als Pazifist nicht vor, sich derart radikalisiert zu haben? | |
Dieses totale Bei-ihm-Sein, das kippt auf jeden Fall an diesem Punkt, in | |
kriegerische Situationen zu gehen. Da verschwimmt meine Wahrnehmung | |
allerdings, meine moralische Einordnung. Da ich ja in meiner Käseglocke | |
hier in Deutschland bin und mir das nur bedingt vorstellen kann. Wenn mir | |
ein Krieg aufgezwungen würde, wenn meine Gruppe angegriffen würde, wer | |
weiß, was ich dann tun würde? Welche archaischen Muster da greifen. Er ist | |
jedenfalls kein Held für mich. Was ich ihm als Vater vorwerfe, ist, dass er | |
nicht genug auf sich aufgepasst hat. Dass ihm sein Leben offenbar egal | |
geworden war. In dem Video etwa sagt er, er werde sich tausend türkischen | |
Panzern zur Not allein entgegenstellen, solche Sachen. | |
Als dann der Krieg vor Ort war, wie war das für Sie? Verdrängt man dann, | |
verfolgt man stündlich Nachrichten? | |
Beides. Immer wenn irgendeine Nachricht kam, dann ging das Zittern wieder | |
los, die Angst um das eigene Kind. Oft gab es auch regelrechte | |
Projektionen, Fantasien. Manchmal saß ich mit seinen Schwestern, wir | |
schauten uns an und waren ganz sicher: Jetzt steht er gleich vor der Tür | |
und klingelt! So ein Warten auf Godot. Er hatte ja total abgeschlossen mit | |
seinem bisherigen Leben. Das fanden wir schon brutal, uns gegenüber, seinen | |
Freunden, seiner Beziehung. | |
Fragt man sich nicht ständig, ob man etwas falsch gemacht hat? | |
Ich habe in manchen Situationen, auch mit Jakobs Schwestern, so gegenteilig | |
wie möglich zum Konzept „Helikoptereltern“ gehandelt. Die Mutter und ich | |
hatten schon eine total enge Bindung zu den Kindern. Aber so frei und | |
unbeobachtet ich von meinen Eltern aufgewachsen bin, so sehr wollte ich, | |
dass auch meine Kinder lernen, allein klarzukommen. Und da mache ich mir | |
manchmal Vorwürfe. Gerade in den letzten beiden Jahren, bevor Jakob | |
verschwand. Da lebte er nach der Trennung von der Mutter bei mir. Da frage | |
ich mich schon manchmal, ob ich mich mehr hätte kümmern müssen. | |
Im Dezember 2018 kam der Anruf mit der Todesnachricht. Wie fühlt sich das | |
an, die plötzliche Gewissheit nach jahrelanger Ungewissheit? | |
Surreal. Traumatisch. Die Gewissheit ist selbst surreal. Das dauert lange, | |
bis das wirklich einsickert ins Bewusstsein. Wir konnten von Anfang an | |
Witze machen, er selbst war ja auch so lustig. Selbst bei dem Anruf haben | |
wir gescherzt: „Ach, der Spacken! Da hat er wieder geträumt und was | |
verdödelt.“ Sein Kampfname „Şiyar“ war ja auch ironisch. Es heißt „d… | |
Wache“, aber er war ja total verträumt. Bis heute schwanke ich zwischen | |
plötzlichen Heulkrämpfen und Lachen. Aber das Unverständnis bleibt. | |
Würden Sie gerne noch mal vor Ort fahren? | |
Das wäre mein Wunsch, wenn es einigermaßen Frieden gäbe und der Wahn ein | |
Ende hat, dass ich dort seinen Begräbnisort finden und besuchen könnte. | |
1 Mar 2020 | |
## AUTOREN | |
Kristian Meyer | |
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