| # taz.de -- Porträtkunst in Zeiten von Instagram: Wo der Selfie-Stick nicht re… | |
| > Zeigen, was ist: Dokumentarische Porträt-Kunst in der Pinakothek der | |
| > Moderne setzt einen Kontrapunkt zur Selfie-Kultur auf Instagram. | |
| Bild: Leben im unwiederbringlichen Moment: Rineke Dijkstras „Tiergarten, Berl… | |
| Ein Mädchen steht barfuß im Gras, die Haare fallen lang über ihre | |
| Schultern. Die Hände ballt sie zu lockeren Fäusten, ihr Blick ist leer. | |
| Weißes Shirt, schwarze Tattookette um den Hals, am linken Fußgelenk | |
| derselbe Plastikschmuck, der sie in ihrer Zeit verortet: So war das, im | |
| Tiergarten, in Berlin, im Juni des Jahres 1999. Und in München. Und in | |
| Köln. So waren die ersten Tage eines Sommers, der sich endlos anfühlte und | |
| nie wiederholen ließ. | |
| „Ein Foto ist immer eine Art von Lüge“, hat Fotografin Rineke Dijkstra | |
| gesagt: „Wahrheit gibt es nur für den Bruchteil einer Sekunde.“ Doch jedes | |
| Bild, das eine Stimmung so punktgenau wie ihr Mädchenporträt einfriert, | |
| bringt Betrachtern ein früheres Leben zurück: Das Jahr etwa, in dem an der | |
| Columbine Highschool ein Dutzend Schüler niedergeschossen wird, Nordirland | |
| autonom, Kate Moss zur Ikone – und Fassbrause im Park zum Freiheitsgefühl. | |
| Derzeit ist das Bild in der Pinakothek der Moderne in München zu sehen. | |
| „Gegenüber“ heißt die Sammlungspräsentation, die dokumentarische | |
| Annäherungen an Menschen in den Blickpunkt rückt. Ab 1910 hatte August | |
| Sander (1876–1964) an einer visionären Reihe gearbeitet: In rund 600 Fotos | |
| zeigte er „Menschen des 20. Jahrhunderts“. | |
| Neben einigen seiner Porträts – denen eines Arbeitslosen, eines später | |
| ermordeten jüdischen Geschäftsmannes, einer rauchenden Filmschauspielerin – | |
| hängen Penner, Punks und Reisende. Auch vier Abzüge der Reihe „Brown | |
| Sisters“ von Nicholas Nixon, der jährlich seine Frau mit ihren Schwestern | |
| ablichtet, sind dabei. | |
| ## Da wird der Insta-Boyfriend bemüht | |
| York der Knoefels einmalig beiläufige U-Bahn-Porträts zeigen ein Berlin, | |
| das Mitte der 80er vor der Implosion steht – was am müden | |
| Nachhauseweg-Gesicht aber nicht das Geringste ändert. Die Serie von Sibylle | |
| Bergemann zu Clärchens Ballhaus konserviert die Bodenständigkeit des Ortes | |
| Berlin-Mitte der siebziger Jahre. | |
| Unweigerlich wird man durch die Silbergelatineabzüge darauf geworfen, wie | |
| stark sich unsere Sehgewohnheiten verändert haben: Millionen | |
| Social-Media-Nutzer laden täglich Porträts hoch; wo der Selfie-Stick nicht | |
| reicht, wird der Insta-Boyfriend bemüht. So schaffen [1][Frauen wie Laura | |
| Müller] auf Instagram, wovon Lieschen Müller vielleicht träumt: Die | |
| 19-Jährige exponiert ihr Glück mit ihrem 47-jährigen Partner, einem | |
| Schlagersänger, und wird zur Influencerin mit fast einer halben Million | |
| Followern. Zu einer. Von vielen. | |
| Auf Social Media scheint mühelos möglich, was real nicht „effortless“ zu | |
| haben ist: Liebe, Anerkennung, Sichtbarkeit. Instagram hat eine Milliarde | |
| User weltweit, in Deutschland sind es rund 15 Millionen. Noch erfüllen nach | |
| einer aktuellen Forsa-Studie im Auftrag der DAK weniger als 3 Prozent der | |
| deutschen Jugendlichen die Kriterien für eine Social-Media-Abhängigkeit – | |
| allerdings hängen Mädchen zwischen 16 und 17 Jahren fast dreieinhalb | |
| Stunden pro Tag in sozialen Medien (Jungen unter drei Stunden). | |
| ## Sie feiern das Leben | |
| Jeder dritte Jugendliche nütze soziale Medien, sagt die Studie, um nicht an | |
| unangenehme Dinge denken zu müssen – bei den Mädchen sogar knapp die | |
| Hälfte. [2][Selfies von Leonie Hanne] oder [3][Caro Daur] zeugen so auf | |
| ihre Art von ihrer Zeit: Sie feiern das Leben. Immer. Und wer auf Instagram | |
| den Hashtag #bodyposes eingibt, bekommt einen Schwall vermeintlicher | |
| Selbstliebe entgegengespuckt: muskulöse Unterschenkel, durchgebogene | |
| Rücken, aufgeblähte Armrückseiten. | |
| Andere Selfies wiederum bedienen ein Mitteilungsbedürfnis, das so alt ist | |
| wie das Selbstporträt: Wenn etwa [4][eine Bloggerin] entscheidet, ihre | |
| plötzliche Krebstherapie und sogar die Aufklärung ihres kleinen Sohnes über | |
| ihren baldigen Tod öffentlich zu machen, kann es um die bewusste | |
| Entscheidung gehen, eine menschliche Erfahrung nicht vor einer Community | |
| abzuschirmen, welche die „Tagesschau“ längst nicht mehr erreicht. | |
| Das vormals künstlerische Bestreben scheint in der Trivialkultur angekommen | |
| zu sein. Aber da, wo das eigene Bildnis künstlerisch verwertet, übermalt | |
| und entstellt wurde – etwa bei Ana Mendieta oder in Arnulf Rainers „Body | |
| Poses“ – sollte der Zuschauer bewusst an einem Prozess der Selbstbefragung | |
| teilhaben, von dem er sonst ausgeschlossen gewesen wäre: „Wenn ich zeichne, | |
| bin ich aufgeregt, spreche mit mir selbst, verziehe mein Gesicht“, hat sich | |
| Arnulf Rainer 1971 erklärt. „(Ich) beschimpfe Leute, bewege und verwandle | |
| mich permanent als Leib, Charakter und Person. Diese Nebenerscheinungen bei | |
| der Bildnerei wollte ich verselbständigen.“ | |
| ## Über das Leben zur Kunst | |
| Andy Warhol suchte im eigenen Gesicht nach Spuren, die „sein“ New York an | |
| Menschen hinterließ: Als junger Mann will er alt wirken, als alter dann | |
| jung. Francisco de Goya malte sich dem Tod nahe in den Armen von Dr. | |
| Arrieta, wobei er sich durch Licht- und Linienführung klagend an den | |
| Betrachter wendet. | |
| Frida Kahlo war sich selbst Motiv, als sie nach ihren Operationen ans Bett | |
| gefesselt ist: Sie exponiert persönliches Leid, weil ihr die Erfahrung nur | |
| durch Kunst zu fassen scheint. | |
| Auch Rineke Dijkstra kommt über das Leben zur Kunst: Als sie nach einem | |
| Fahrradunfall mit ihrer eigenen Versehrtheit zu kämpfen hatte, ging sie | |
| schwimmen – und dokumentierte sich vor der Kamera. Für die Mädchenporträts | |
| im Tiergarten arbeitete sie mit Druckplatten, Blitz und Assistenten, um die | |
| Schülerinnen für einen Moment aus ihrer Welt zu lösen und Unsicherheit und | |
| Selbstbeobachtung herauszuarbeiten. | |
| Durch die Allgegenwärtigkeit von Kameras und die Schnappschusskultur der | |
| späten Neunziger ist diese Selbstbefragung sonst bereits obsolet – und | |
| heute um so mehr. Doch gerade durch die Brüche und Blickachsen gelingt es | |
| der kleinen, nachdenklichen Schau, ihr wahres „Gegenüber“, den Betrachter, | |
| hier zu sensibilisieren und mitzunehmen. | |
| 11 Feb 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Johanna Schmeller | |
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