# taz.de -- Jan Vermeers moderne Bilder: Er will nicht wissen, was er malt | |
> Jan Vermeer malte wie ein Fotograf. Seine „Junge Dame mit Perlenhalsband“ | |
> in der Berliner Gemäldegalerie sehen wir in einem intimen Moment. | |
Bild: Mit sich selbst beschäftigt: Jan Vermeer van Delfts „Junge Dame mit Pe… | |
Als er von seinem Besuch in Holland im Jahr 1874 berichtete, hielt Henry | |
James ganz im Stil der Betrachtung niederländischer Kunst im 19. | |
Jahrhundert fest: „Wenn man die Kopien betrachtet, scheint man die | |
Originale anzuschauen. Handelt es sich um die Seite eines Kanals in Haarlem | |
oder ist es ein Van der Heyden? Die Dienstmädchen auf der Straße scheinen | |
einem Rahmen von Gerard Dow entsprungen und gleichermaßen bereit zu sein, | |
auch wieder in ihn hinein zu treten. Wir müssen eine sehr besondere Brille | |
aufsetzen und uns über unsere Aufgabe beugen und doch bleiben wir, jenseits | |
unseres Bewusstseins darüber, dass unsere Ausbeute der Wirklichkeit | |
entspringt, zweifelsohne ratlos, wie wir diese Gestalten klassifizieren | |
sollen.“ | |
Henry James war nicht der Einzige, der damit kämpfte, niederländische | |
Gemälde von den Gegenständen zu unterscheiden, die sie zu imitieren | |
suchten. | |
Goethe beschrieb in „Dichtung und Wahrheit“, wie er nach einem Besuch in | |
der Dresdner Gemäldegalerie in die Werkstatt des Schusters zurückkehrte, | |
bei dem er wohnte: „Als ich bei meinem Schuster wieder eintrat, um das | |
Mittagsmahl zu genießen, trauete ich meinen Augen kaum: denn ich glaubte | |
ein Bild von Ostade vor mir zu sehen. Stellung der Gegenstände, Licht, | |
Schatten, bräunlicher Teint des Ganzen, magische Haltung, alles, was man in | |
jenen Bildern bewundert, sah ich hier in der Wirklichkeit.“ | |
In Dresden konnte Goethe ein bräunliches Gemälde von Adriaen van Ostade | |
sehen, „Der Maler in seiner Werkstatt“. In der Gemäldegalerie hätte unser | |
guter Goethe aber auch zwei Bilder aus Johannes Vermeers bescheidenem Œuvre | |
bewundern können – 36 Gemälde sind es insgesamt. Rembrandt hat allein | |
doppelt so viele Selbstporträts gemalt. In Dresden hingen Vermeers Bilder | |
„Bei der Kupplerin“ und „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“, die | |
August III von Sachsen im Jahr 1741 erworben hatte. | |
## In einem intimen Moment | |
Das „Brieflesende Mädchen“ aus Dresden findet seine Entsprechung in der | |
„Jungen Dame mit Perlenhalsband“ in der Berliner Gemäldegalerie. Sie zeigt | |
sich ungeschützt in einem intimen Moment mit sich selbst. Währenddessen | |
wird sie von trübem Tageslicht beleuchtet, das wie eine ätherische Wolke in | |
den Raum hineinströmt. | |
Wir wissen nicht, ob Goethe den Dresdner Bildern Vermeers seine | |
Aufmerksamkeit geschenkt hat. Wir wissen aber, dass die Begründer der | |
Sammlung, die sich in der Berliner Gemäldegalerie befindet, seit dem 19. | |
Jahrhundert ihre persönlichen Interessen mit ihrem pädagogischen Auftrag in | |
Einklang zu bringen versuchten, als sie sich daran machten, eine | |
repräsentative Sammlung für Preußen zusammenzustellen. [1][Sie zogen | |
Rembrandt Vermeer vor] und gaben sich wenig Mühe, weitere der so raren | |
Werke des niederländischen Meisters zu erwerben. | |
## Eine Wand, die zu atmen scheint | |
Eine junge Frau, die ihre Arme hebt, um sich ein Perlenhalsband anzulegen, | |
hat dem Bild „Junge Dame mit Perlenhalsband“ seinen Titel gegeben. Wie eine | |
feminine Säule füllt sie die rechte Seite der eher kleinen Leinwand. | |
Ihre goldgelbe Robe, deren Farbe ein visuelles Echo des zur Seite gezogenen | |
Vorhangs ist, umfängt sie genauso wie die leuchtende, zu atmen scheinende | |
Wand, die den meisten Raum des Bildes einnimmt. Es ist dasselbe | |
verschleierte Tageslicht, das wir aus allen Bildern Vermeers kennen und das | |
den Raum wie ein eigenständiger Protagonist bewohnt. | |
## Spiegelbild der göttlichen Welt | |
Die Frau scheint weniger ihr Bild in dem an der Wand hängenden Spiegel zu | |
betrachten, als sich vielmehr dem Fenster und dem hereinflutenden Licht | |
zuzuwenden. Fenster und Spiegel verweisen hier auf die beiden Metaphern, | |
ein Gemälde zu interpretieren. Ist es eine Reflektion, „specula“, wie | |
Sokrates meinte? Oder ein Fenster, wie Alberti vorschlug? | |
Allegorie und Analogie, Symbol und Naturähnlichkeit, sind im Gemälde | |
miteinander verschränkt. Die Reflektion des Spiegels gibt dabei Zeugnis ab | |
vom Denken vor der Erfindung der Zentralperspektive, als man sich die Welt | |
als projeziertes Spiegelbild der göttlichen Welt vorstellte. | |
## Wie Licht auf Gegenstände fällt | |
Unbeweglich und beleuchtet strahlt die Frau, als ob ihr Antrieb, ihr ganzes | |
Sein und ihr Vorhaben, das sich in ihrem Habitus zeigt – rote Schleife im | |
Haar, Perlenohrringe und Hermelin –, vom einfallenden Licht abhinge, das | |
säkular und theologisch zugleich ist. Als ob ihre Existenz den einzigen | |
Zweck erfülle, abzubilden, wie Licht auf Gegenstände fällt. | |
Gegen ihre weibliche Vertikalität, die so fest im Boden verankert scheint, | |
stehen in der unteren Hälfte des Bilds die scharfe horizontale Kante eines | |
Tischs und ein leerer Stuhl, die so eine visuelle Barriere bilden, die den | |
Maler und uns Betrachter von dem trennen, was wir sehen. Das ist ein | |
wiederkehrendes Motiv bei Vermeer, der Stühle, Tische und schließlich sogar | |
sich selbst in seinem Bild „Die Malkunst“ im Vordergrund platziert, um uns | |
auf Distanz zu halten zu dem, was wir sehen und vielleicht begehren. Der | |
Künstler dringt in die Privatheit seiner Figur mit der Perlenkette ein, und | |
doch ist sie vollständig – getrennt und außerhalb seines Zugriffs. | |
## Ein kleine Bürste | |
Obwohl die ganz irdische Dame im Bild eine Transfiguration einer Venus, | |
einer badenden Diana oder von Batseba sein könnte, die sich im Bad auf ein | |
Treffen mit dem König vorbereitet, und obwohl ihre Reinigungsutensilien | |
eine Allegorie auf die Reinigung der Seele sein könnten, sind sie doch | |
letztlich profan. | |
Auf dem Holztisch unterm Spiegel schimmert ein silbernes Becken wie eine | |
Perle. Ein kleine Bürste, deren Haare man womöglich zählen könnte, liegt | |
neben einem Kamm, der dabei so beiläufig real aussieht, dass man ihn in die | |
Hand nehmen möchte. | |
## Was für eine Kunst ist das? | |
Anhand der Bilder von Vermeer können wir verstehen, warum das von Henry | |
James und Goethe formulierte Problem der Verwechslung von Bild und Leben | |
und das daran anschließende Problem – wo ist die Kunst? – wahrscheinlich | |
auf einer falschen Frage beruht. | |
Egal, ob die täuschende Lebensähnlichkeit wie von Henry James oder Goethe | |
enthusiastisch begrüßt oder vehement abgelehnt wurde – die Verlegenheit | |
angesichts des „deskriptiven“ Charakters der niederländischen Malerei des | |
17. Jahrhunderts und der Schwierigkeit, sie einzuordnen, ging den Fragen | |
voraus, die sich angesichts technologischer Bilder heute stellen. | |
Naturalistische Malerei an der Schwelle zwischen der physischen Welt und | |
unserer Wahrnehmung – was für eine Kunst ist das? | |
## Ein Finger, eine Nase, ein Tisch | |
In der Tat ist Vermeers Distanziertheit unpersönlich, aber idiosynkratisch. | |
An keiner Stelle, nirgends verraten seine Bilder etwas über ihn: Ist er | |
gehörlos, oder vielleicht tief philosophisch? Seit jeher wurde darüber | |
spekuliert, ob es eine Verbindung geben könnte zwischen Vermeers Malerei | |
und Descartes' Wende nach innen und der Einsetzung des „Subjekts“ oder gar | |
zu der von Spinoza behaupteten Immanenz von Welt und Gott. Descartes und | |
Spinoza waren Vermeer geographisch und historisch nahe. | |
Und doch nimmt seine Distanziertheit den aufs menschliche Auge zielenden | |
Impressionismus und sogar die Fotografie vorweg: Vermeer scheint nicht | |
wissen zu wollen, was er malt. Die Welt der Begriffe, die davon handelt, | |
was etwas ist, ein Finger, eine Nase, ein Tisch, verwandelt sich in eine | |
Abbildung, die sich nur dem Licht verpflichtet fühlt, das auf diese Dinge | |
fällt. | |
## Der Blick einer Maschine | |
Dieser Gleichmut des Blicks selbst einer obskuren Repräsentation von | |
Objekten gegenüber, an die wir uns heute durch die Fotografie gewöhnt | |
haben, muss seinen Zeitgenossen als exzentrischer Stil erschienen sein. | |
Vermeers Blick ist modern im Sinne der von ihm platzierten “Glaswand“, die | |
auf unserer Trennung vom Betrachteten besteht, und gerade deswegen eine | |
Intimität mit dem Gesehenen erlaubt. Dieser Blick ist der einer Maschine | |
oder eines Gotts. | |
Er macht die Frage überflüssig, ob der Maler, der von optischen Apparaten | |
fasziniert war, beim Herstellen seiner Gemälde womöglich eine Camera | |
obscura nutzte, weil ihn an den optischen Instrumenten vor allem ihre | |
Herangehensweise interessierte. | |
13 Sep 2019 | |
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## AUTOREN | |
Tal Sterngast | |
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