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# taz.de -- FDP stellt Thüringer Ministerpräsident: Der Damm nach rechts ist …
> Empörung im linken Lager, Beschwichtigungen der „Bürgerlichen“: Wie es
> zur Wahl von Thomas Kemmerich dank der AfD kam.
Bild: Mann der AFDP: Thomas Kemmerich
Erfurt taz | Nach dem dritten Wahlgang, Landtagspräsidentin Birgit Keller
hat gerade das Ergebnis verkündet, steht der AfD-Bundestagsabgeordnete
[1][Stephan Brandner] hinter der Pressetribüne im Thüringer Landtag.
„Genauso war das gedacht “, sagt Brandner und grinst breit. „Und keiner h…
es gemerkt.“
Was er damit meint: FDP-Landeschef Thomas Kemmerich, dessen Partei mit 5
Prozent in den Landtag eingezogen ist, ist gerade mit 45 Stimmen zum neuen
Ministerpräsidenten gewählt worden – mutmaßlich von der FDP selbst, der CDU
und der AfD. Damit ist er der erste Ministerpräsident in Deutschland, der
sich von der extrem rechten Partei hat wählen lassen. Es ist ein Dammbruch,
mit dem in Erfurt kaum einer gerechnet hatte.
Der bisherige Ministerpräsident Bodo Ramelow hat 44 Stimmen bekommen, nur
eine weniger als Kemmerich. Rot-Rot-Grün, die eigentlich eine
Minderheitsregierung bilden wollten und den Koalitionsvertrag schon
unterzeichnet hatten, kommen gemeinsam auf zwei weniger. Es gab nur eine
Enthaltung.
Die AfD hat damit ihren eigenen Kandidaten, den parteilosen [2][Christoph
Kindervater], ehrenamtlicher Bürgermeister einer kleinen Gemeinde in
Nordwesten Thüringens, zur Staffage gemacht. Er bekam keine einzige Stimme.
## Blumenstrauß vor die Füße
Als Landtagspräsidentin Keller das Ergebnis verkündet, reagieren FDP und
CDU merkwürdig verhalten. Vor allem bei der AfD aber bricht Jubel aus. Dann
fragt Keller den FDP-Mann, ob er die Wahl annehme.
Kann er das? Will er wirklich der erste Ministerpräsident von Gnaden der
AfD sein? Er will. „Ich nehme die Wahl an“, sagt Kemmerich. Sein Bundeschef
Christian Lindner hatte das jüngst noch für ausgeschlossen erklärt.
Kurz darauf verlässt Ramelow den Saal. Björn Höcke, Fraktionschef der AfD
im Landtag und einer der ganz Rechten in seiner rechten Partei, ist unter
den ersten, die Kemmerich gratulieren.
Susanne Hennig-Wellsow, Fraktionschefin der Linken, geht mit einem
Blumenstrauß auf ihn zu. [3][Doch anstatt ihm zu gratulieren, wirft sie ihn
Kemmerich vor die Füße.] „Sie sind kein Demokrat, schämen Sie sich!“,
schmettert sie ihm entgegen. Verstehen kann man das auf der Pressetribüne
nicht. Doch so erzählt sie es später auf den Landtagsfluren.
## Tränen in den Augen
Unterdessen verlassen zahlreiche BesucherInnen noch vor der Vereidigung des
neuen Ministerpräsidenten die Besuchertribüne. „Wie furchtbar“, schluchzt
eine junge Frau. Auch ihre Begleiterin hat Tränen in den Augen. Die, die
bei Linken und Grünen noch auf ihren Abgeordnetenplätzen sitzen, gucken
entsetzt. So hatten sie sich den Tag gewiss nicht vorgestellt.
Um elf Uhr hatte die Landtagssondersitzung begonnen. Zunächst stellen sich
nur zwei Kandidaten zur Wahl: Ramelow für Rot-Rot-Grün, Kindervater für die
AfD. Doch in den ersten beiden Wahlgängen erhält keiner der beiden die
absolute Mehrheit, die hier noch nötig ist. Ramelow fehlen im ersten
Wahlgang dazu drei, im zweiten nur noch zwei Stimmen.
Auf den Landtagsfluren wird vermutet, dass CDU-Abgeordnete für ihn gestimmt
haben. Schließlich ist er ein außerordentlich beliebter Ministerpräsident
und ein gemäßigter Linker dazu. Anderswo wäre er vielleicht Sozialdemokrat.
Um 12 Uhr 45 ruft Landtagspräsidentin Keller dann den dritten Wahlgang auf.
[4][Jetzt reicht die einfache Mehrheit.] Gewählt ist also, wer die meisten
Stimmen bekommt. Ramelow und Kindervater kandidieren erneut. „Für die FDP
darf ich Thomas Kemmerich vorschlagen“, sagt Robert-Martin Montag, der
Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion. Keller unterbricht die
Sitzung für 20 Minuten, es müssen neue Wahlzettel gedruckt werden.
## Es wird eng für Ramelow
Die Linke Hennig-Wellsow geht raus, die Grüne Astrid Rothe-Beilich setzt
sich auf deren Platz neben Ramelow. Sie reden und gucken ernst dabei. Sie
wissen: Die CDU hat im Vorfeld beschlossen, für Kemmerich zu votieren,
falls dieser antritt. Wenn die AfD jetzt noch für den FDP-Mann votiert,
wird es eng für Ramelow.
Als Kemmerichs Name zur Abgabe seiner Stimme aufgerufen wird, kommt er auf
dem Weg zur Wahlurne an Ramelow vorbei. Die beiden sprechen kurz. Wenig
später ist Ramelow dran. Als er den Wahlzettel in die Urne wirft, hält er
kurz inne und schaut hoch, die Kameras klicken. Das dürften die letzten
Bilder von ihm als Ministerpräsident sein. Eine Viertelstunde später ist
das Geschichte.
Nach dem Wahlergebnis wird draußen vor dem Plenarsaal Mike Mohring,
CDU-Fraktionschef, von der Presse bestürmt. „Wir haben uns entschieden, den
Kandidaten der bürgerlichen Mitte zu unterstützen“, sagt Mohring. Und dass
er nicht verantwortlich für die Kandidaturen anderer Parteien sei. Man sei
alle Eventualitäten durchgegangen, „aber in eine Glaskugel habe ich nicht
geschaut“.
Auf den Vorwurf, seine Partei habe durch die Wahl des von der AfD
unterstützten Kemmerichs einen Tabubruch begangen, sagt er, er erwarte nun
eine „klare Abgrenzung zur AfD“ von diesem. Dann seien Koalitionsgespräche
möglich. Auch Raymond Walk, CDU-Generalsekretär, sagt: „Für das
Wahlverhalten anderer Parteien sind wir nicht verantwortlich.“
## Rot-rot-grün „geschockt“
Von PolitikerInnen von Rot-Rot-Grün hört man vor allem Entsetzen. „Das ist
ein beispielloser politischer Tabubruch“, sagt der grüne Fraktionschef Dirk
Adams. Nach dem CDU-Beschluss, im dritten Wahlgang für Kemmerich zu
stimmen, habe man die AfD-Variante zwar durchgespielt, aber nicht ernsthaft
damit gerechnet.
Der Bundesgeschäftsführer der Linken, Jörg Schindler, der das Geschehen auf
der Besuchertribüne verfolgt hat, plädiert für Neuwahlen. „Die FDP lässt
sich von einer Fraktion Macht verschaffen, die von Faschisten getragen
wird. Das untergräbt die Demokratie.“
Die Landes-SPD wirft den Liberalen eine „Missachtung des Wählerwillens“
vor. Er sei „geschockt, dass die FDP sich hergibt, Spielchen mit der AfD zu
machen“, sagt der bisherige Landesinnenminister Georg Maier. Die Wahl eines
FDP-Ministerpräsidenten entspreche nicht dem Votum der Wähler.
Landeschef Wolfgang Tiefensee schließt jede Mitarbeit von SPD-Ministern in
einem Kabinett Kemmerich aus. Eine solche Option hatte dieser vorab
angeboten. Thüringens AfD-Chef Björn Höcke spricht von einem „guten Tag f�…
Thüringen“.
## Spontane Demos gegen Kemmerich
Das sehen nicht alle so. Schon am Nachmittag kommen vor dem Landtag etwa
300 Menschen zu einer spontanen Demonstration zusammen. Sie halten Plakate
mit „Betrug am Wähler“ und „Stoppt AfD“ hoch, auch ein Foto von Ramelo…
der Aufschrift „Still mein MP“ ist dabei. Dazu Pfiffe und Buhrufe.
Innen tritt der frisch gewählte Ministerpräsident mit einem Statement vor
den Landtag. Hohngelächter und „Scharlatan“-Zwischenrufe begleiten es. „…
Brandmauern gegenüber Extremisten bleiben erhalten“, beschwichtigt
Kemmerich. „Ich bin Anti-AfD und Anti-Höcke“, fügte er später vor
Journalisten hinzu. Es werde keine Koalition und keine AfD-Politik mit ihm
geben.
Wie er dann Mehrheiten für seine bürgerliche Politik finden wolle?
Kemmerich bietet CDU, SPD und Grünen Gespräche über eine Regierungsarbeit
an.
Ohne die AfD aber verfügte eine sogenannte Simbabwe-Koalition auch nur über
eine Minderheit von 40 der 90 Landtagssitze. Wie das künftige
Abstimmungsverhalten aussehen könnte, zeigte bereits deren gemeinsames
Votum für eine Vertagung der vorgesehenen Kabinettsvereidigung.
Eines ist aber nach Aussage der linken Landtagspräsidentin Birgit Keller
klar: Bis Mittwoch 18 Uhr bereits mussten der gescheiterte Bodo Ramelow und
seine Mitarbeiter die Büros der Staatskanzlei räumen. Kemmerich hat das
gegenüber der taz allerdings dementiert.
5 Feb 2020
## LINKS
[1] /Abwahl-von-AfD-Politiker-im-Ausschuss/!5641977
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Christoph_Kindervater
[3] https://www.youtube.com/watch?v=MUROIxzKhLc
[4] /Ministerpraesidentenwahl-in-Thueringen/!5658012
## AUTOREN
Michael Bartsch
Sabine am Orde
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