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# taz.de -- Tschechow am Hamburger Schauspielhaus: Gesellschaft der Gelangweilt…
> Wenn die Schwermut sich kraftlos auf die anderen überträgt: Karin Beier
> inszeniert „Ivanov“ als Zusammenkunft verlorener Gestalten.
Bild: Bilder von Ereignis- und Ausweglosigkeit: Szene aus „Ivanov“
Hamburg taz | Am Tiefpunkt seiner Schwermut, im schwärzesten Moment seiner
Seelenlage vermutlich, da wird Ivanov zum unberechenbaren Monster. Gerade
noch hat Saša, die Tochter der Gutsnachbarn, ihm ihre bedingungslose Liebe
gestanden, hat hektisch sein Gesicht abgeküsst und ihn eng umklammert.
Da betritt seine Frau Anna Petrowna die Bühne. Lungenkrank, bleich – ihre
Haut ist so weiß wie ihr Nachthemd – und mit angstvollem Blick entdeckt sie
den Betrug, schreit und schlägt auf Ivanov ein, unkontrolliert und mit von
Schwindsucht geschwächten Armen.
Mit heiserer Stimme brüllt sie ihre Verzweiflung hinaus über ihr verlorenes
Leben, ihren verlorenen Glauben, ihren verlorenen Namen. Über all das, was
sie, eine Jüdin, für die Ehe mit Ivanov aufgegeben hatte. Ivanov duckt sich
erst weg und holt dann, als sich Anna bei einem heftigen Hustenanfall fast
erbricht, zum heftigen Gegenschlag aus. Er schubst sie über die leere
Bühne, beschimpft sie und bald schlagen beide hasserfüllt aufeinander ein.
Es ist ein verbal und körperlich brutaler Psychokrieg zwischen den
Eheleuten, an dessen Ende Ivanov Anna ihren Todesdiagnose ins Gesicht bellt
– und sie mit weit aufgerissenen Augen erstarrt.
Es ist eine Szene wie aus Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia
Woolf?“, jenem modernen Klassiker, den [1][Karin Beier] vor einem Jahren
[2][auf die Bühne des Schauspielhauses brachte]. Ebenfalls mit [3][Devid
Striesow] in der männlichen Hauptrolle. Mit scharfer psychologischer
Figurenzeichnung erzählte sie damals von Liebe und Hass, von Ekel und
Erotik. Die Demütigungen, Beschimpfungen und Beleidigungen wurden mit
Bourbon befeuert, jetzt in Tschechows „Ivanov“ fließt natürlich Wodka. In
rauen Mengen.
Dass einem mitten in Beiers „Ivanov“-Inszenierung Albees Ehe-Massaker in
den Sinn kommt, liegt nicht allein an Devid Striesow. Tatsächlich zeichnet
die Regisseurin auch Tschechows über 100 Jahre alte Figuren in ähnlicher
Manier: heutig und nachvollziehbar menschlich. Die Regiehandschrift ist
dieselbe: zurückhaltend psychologisch, und da Tschechows Figuren um einiges
introvertierter sind als Albees, auf andere Art lebensmüde und in erster
Linie apathisch melancholisch sind, ist dieser heftige Wutausbruch so
markant. Mit Wucht legt er offen, welche gefährlichen Energien tief in
Striesows scheinbar träg-erschlafftem Ivanov lauern, welche Unzufriedenheit
und welche Aggression. Dass Anna Petrowna im nächsten Akt dann gestorben
ist, wundert wirklich niemanden.
## Ziellos durchs Leben
Karin Beier inszeniert Tschechows „Ivanov“ als träge Gesellschaft der
Gelangweilten und Verlorenen. Deren Zentrum bildet Ivanov, der zwar in
regelmäßigen Abständen als der einzig richtige Kerl im Land gefeiert wird,
tatsächlich aber den Virus der Schwermut in sich trägt und ihn acht- und
kraftlos auf alle anderen überträgt.
Striesows Ivanov ist meist still präsent. Beim ziellosen Taumeln durchs
Leben hält er sein graues Jackett fest (oder vielmehr sich an diesem), sein
Blick ist leer, seine Haare sind strubbelig. Oft steht er auch ganz allein
und verloren im Raum, „steht da wie ein Pilz, schweigend“, heißt es einmal.
Dieser Ivanov weiß nicht, wohin seine Lebenslust verflogen ist, wohin seine
Pläne – und erst recht nicht, wohin mit sich selbst. Ganz selten blitzt
Energie auf, ist da ein Funken Liebe und Schwärmerei – für ebenjene Saša,
die [4][Aenne Schwarz] mit herrlich entschlossener, trotziger Haltung und
der vermeintlichen Klarsichtigkeit der Jugend spielt.
Im Alter von 27 Jahren schrieb Anton Tschechow dieses, [5][sein erstes
Theaterstück]. 1887 kam es in Moskau als Komödie zur Uraufführung, kurz
darauf arbeitete er es zur Tragödie um. Letztlich verhandelt er darin
nichts Geringeres als das Leben der Menschen in seiner ganzen Absurdität,
seiner Lächerlichkeit, Schicksalhaftigkeit und Aussichtslosigkeit. Der
Protagonist fungiert als Projektions- und Symbolfigur für den Ennui und die
träge Unlust, das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Er ist Opfer seiner
Ängste und seiner Unentschlossenheit.
Ivanovs Themen und Sorgen sind dermaßen zeitlos, dass Beier nur wenige
Bilder (und eigentlich auch nicht die von ihr eingestreuten
No-Future-Fremdtexte) braucht, um die Gegenwart zu bespielen. Mit auf
drastische Komik setzenden Szenen erzählt sie von der oberflächlichen
Küsschen-links-Küsschen-rechts-Gesellschaft, mit verschwenderischen
Laufsteg-Posen von hedonistischer Selbstdarstellung, mit der düsteren
Technomusik von Jörg Gollasch und entfesselt tanzenden Darstellern von
perspektivloser Endzeitstimmung. Die ruhigeren Szenen untermalt der
Live-Musiker [6][Vlatko Kucan] mit Klarinette, Saxophon und melancholischen
Melodien. Kein raffiniertes, aber funktionierendes Mittel.
## Phänomenales Ensemble
Grandiose Schauspieler beleben diese Inszenierung. Sie zeichnen mal
feinsinnig, [7][Eva Mattes] und [8][Michael Wittenborn] etwa als Sašas
Eltern, und auch mal karikiert ([9][Lina Beckmann] kann wohl kaum anders)
jede einzelne (Neben)-Figur. Diese egozentrische Gesellschaft rückt einem
nah durch dieses phänomenale Ensemble, durch Spieler mit großer Lust und
Präzision.
Beiers dreistündiger „Ivanov“ ist mit Klezmerrmusik und weißen Luftballons
manchmal recht kitschig, aber auch und vielleicht gerade deswegen
stimmungsvoll und ergreifend. Er zeichnet Ereignis- und Ausweglosigkeit,
ist ein lasziver und atmosphärischer Abend bei dem die Party – auch nach
gescheiterten Hochzeiten, großem Geschluchze und dem Selbstmord der
Hauptfigur – mit flatternden Nerven einfach weitergeht.
25 Jan 2020
## LINKS
[1] https://www.schauspielhaus.de/de_DE/ensemble/karin-beier.79603
[2] /Virginia-Woolf-im-Schauspiel-Hamburg/!5566620
[3] https://www.devid-striesow.com/
[4] https://www.thalia-theater.de/ueber-uns/ensemble/darsteller/aenne-schwarz
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Iwanow_(Tschechow)
[6] https://www.vlatkokucan.de/
[7] https://evamattes.com/
[8] https://www.schauspielhaus.de/de_DE/ensemble/michael-wittenborn.80819
[9] https://www.schauspielhaus.de/de_DE/ensemble/lina-beckmann.80787
## AUTOREN
Katrin Ullmann
## TAGS
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