# taz.de -- Erinnerung und Vergessen im Netz: Ausgrabungen im digitalen Raum | |
> Unmengen an Daten werden produziert, gespeichert – und vergessen. Wird | |
> das alles archiviert? Ein Blick auf künftige Archäologie. | |
Bild: Vergangenes wird unscharf und unvollständig, auch im Netz | |
Wer sich im Internet als Hobbyhistoriker betätigen will, der kann mit einem | |
Mausklick das [1][Internet Archive] konsultieren. Die | |
Non-Profit-Organisation hat auf ihren Servern 396 Milliarden Webseiten | |
archiviert. Man findet dort zum Beispiel die Online-Ausgabe der New York | |
Times vom 11. September 2001 oder einen Snapshot von Spiegel Online aus dem | |
Jahr 1997, das an das Web 1.0 und die Anfangszeiten der Homepage-Bastler | |
erinnert. Das Netzgedächtnis, das in einer ehemaligen Kirche in San | |
Francisco lagert, ist mehr als nur ein Privatarchiv, es ist auch ein Stück | |
Kultur- und Computergeschichte, das die Entwicklungen der Technologie auf | |
eindrückliche Weise dokumentiert – wenn auch nur bruchstückhaft. | |
Doch jedes Archiv, jede Bibliothek (wenn es nicht gerade die totale | |
Bibliothek von Babel mit unendlich vielen Büchern und Zeichen ist, wie | |
sie der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges imaginierte) ist | |
selektiv: Sie kann schon allein aufgrund des begrenzten Raums nur eine | |
limitierte Anzahl von Büchern und Schriften archivieren, und bei einer | |
digitalen Bibliothek ist es aufgrund der begrenzten Speicherkapazitäten der | |
Rechner nicht anders. | |
Die Frage ist, ob die Archivierung beziehungsweise Konservierung von | |
Sinneinheiten in Zeiten digitaler Bilder- und Informationsflut überhaupt | |
sinnvoll erscheint. Pro Minute werden allein auf Facebook eine halbe | |
Million Kommentare gepostet, auf YouTube 500 Stunden Videomaterial | |
hochgeladen. Wer soll das alles aufbewahren? Und warum? Die International | |
Data Corporation (IDC) prognostiziert, dass das Datenvolumen bis 2025 auf | |
175 Zettabyte anschwellen wird. Gewiss, Daten sind nicht gleich | |
Informationen. Doch schon heute ist es schwierig, die Informationen im Netz | |
zu strukturieren. | |
Der Webanalyst JJ Rosen geht davon aus, dass der Google-Index lediglich 4 | |
Prozent der Informationen aus dem Netz repräsentiert. Laut einer Studie der | |
Fachzeitschrift Nature hat Google rund 16 Prozent der Web-Oberfläche | |
indexiert. Die tieferen Schichten des World Wide Web, das sogenannte Deep | |
Web, hat der Suchmaschinenriese mit seinen Fangnetzen, den sogenannten | |
Webcrawlern, noch nicht durchdrungen. | |
## Kurze Halbwertszeit | |
Das Deep Web ist ein riesiger Ozean aus Informationen: Datenbanken, | |
Statistiken, Archive, Geheimdienstdokumente, Facebook-Posts – all das kann | |
über Google nicht gefunden werden. Es ist ein wenig so, als würde man mit | |
einem Boot auf offenem Meer in den ersten zwei bis drei Metern unter der | |
Wasseroberfläche fischen. Doch bis in die Tiefen des Meeres dringt man | |
nicht vor. | |
Vint Cerf, „Chief Internet Evangelist“ bei Google und einer der „Väter�… | |
Internets, [2][warnte vor einigen Jahren vor einem „digitalen Dark Age“]: | |
Künftige Generationen könnten unter einer Art digitalen Amnesie leiden, | |
weil alte Formate nicht mehr lesbar seien. „Was über die Zeit passieren | |
kann, ist, dass, selbst wenn wir große Archive mit digitalen Inhalten | |
anlegen, wir möglicherweise nicht wissen, was es ist.“ Der Grund: Die | |
relativ kurze Halbwertszeit digitaler Speichertechnologien. | |
Blu-ray hat eine durchschnittliche Lebensdauer von 50 bis 100 Jahren | |
(abhängig von Wärme, Licht, Feuchtigkeit und Kratzer), bei USB-Sticks liegt | |
sie bei 30 Jahren (wobei die Schreibzyklen begrenzt sind), bei Servern | |
zwischen zwei bis zehn Jahren. Bedenkt man, dass Inschriften auf Steinen | |
(etwa der keilschriftlich überlieferte Codex Hammurapi, eine Sammlung von | |
Rechtssprüchen aus dem antiken Mesopotamien) Jahrtausende überdauert haben, | |
nimmt sich das als relativ kurze Periode aus. | |
Angenommen, man schreibt das Jahr 2100 und googelt nach einem Begriff | |
(sofern die Suchmaschine bis dahin überhaupt noch existiert): Würde man | |
eine Seite finden, die anno 2019 indexiert wurde? Man kann diese | |
Überlegungen zu folgendem Gedankenexperiment verdichten: Angenommen, es | |
gäbe Ende des Jahrhunderts die Profession des Internetarchäologen, der mit | |
digitalen Werkzeugen die untersten Schichten des World Wide Web freilegt. | |
Was würde er sehen? Kopien von Selfies? Hasskommentare? Digitalen Müll? | |
Gelänge es ihm, den Code freizuschaufeln, jenen Baustoff elektronischer | |
Dörfer, der den Alltag von Millionen Menschen strukturiert? Was würden | |
Internetarchäologen über den Google- oder Facebook-Algorithmus | |
herausfinden? Und wäre es nicht auch eine Pflicht der Entwickler, diese | |
Black-Box-Systeme zu archivieren und der Nachwelt zu überliefern? | |
Die Entwicklerplattform Github will ihren Open-Source-Code [3][mithilfe | |
eines Lasers auf einer Quarzglasscheibe eingravieren] und in einem Endlager | |
in der norwegischen Arktis archivieren. Im Packeis sollen die Daten 10.000 | |
Jahre überdauern. Es geht dabei ja auch um die Erinnerungskultur, um die | |
Frage, was eine Gesellschaft als konservierbar erachtet, was Eingang in das | |
Zivilisationsarchiv findet – eine Entscheidung, die man nicht Algorithmen | |
überantworten kann. | |
Das Recht auf Erinnern, das als Gegenstück zum [4][Recht auf Vergessen] | |
bisweilen zu kurz kommt, ist ja ein konstitutives Element der | |
Öffentlichkeit. Allein, wie will man sicherstellen, dass die Kopien ein | |
Abbild vergangener Lebenswelten zeichnen, wo schon gut erhaltene | |
Steinplatten nicht mehr sind als Näherungswerte an vergangene Realität mit | |
hoher Fehleranfälligkeit? Ist der Gedanke, Informationen zu archivieren, | |
nicht ein sehr analoger? Können digitale Informationen doch jederzeit | |
überschrieben werden. Und woher rührt die Speicherwut der digitalen | |
Gesellschaft, alles aufzeichnen zu wollen? | |
## Das Internet vergisst | |
Nach Michel Foucault war das Archiv „das Gesetz dessen, was gesagt werden | |
kann, das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse | |
beherrscht“. Mit der Dekonstruktion wollte der Poststrukturalist nicht nur | |
die bürgerliche Institution der Bibliothek sprengen, sondern auch das | |
Wechselspiel zwischen der Erfassung von Aussagen und der Aussagbarkeit | |
aufzeigen. Für Foucault ist das Archiv eben kein statischer Speicher, | |
sondern ein dynamisches Aussagesystem, dem a priori bestimmte Machtcodes | |
eingeschrieben sind. | |
Überträgt man diesen Gedanken auf die digitale Welt, würde das bedeuten, | |
dass mit der Indexierung von Informationen bei Google – das dem | |
Archivierungsprozess sehr nahe kommt – Aussagen über die generelle | |
Aussagbarkeit von Informationen getroffen werden. Sowohl in dem Sinn, was | |
unsere Daten über uns aussagen, als auch in dem Sinn, welche Aussagen eine | |
Suche über die Wirklichkeit im Netz trifft. | |
Die Diagnose, dass das Problem des Internets nicht in der mangelnden | |
Fähigkeit des Erinnerns, sondern in der „schwindenden Möglichkeit des | |
Vergessens“ liege (Roberto Simanowski), wird zuweilen als Störung oder | |
Defekt eines speicherwütigen Mediums betrachtet. Doch das Internet hat | |
durchaus die Fähigkeit zum Vergessen. Im März 2019 [5][vermeldete das | |
soziale Netzwerk MySpace einen riesigen Datenverlust]: Im Rahmen einer | |
Servermigration seien Millionen Songs, Fotos und Videos, die vor 2015 | |
auf der Seite hochgeladen worden waren, vernichtet worden. 12 Jahre, | |
einfach so verschwunden. | |
MySpace war zwischen 2005 und 2008 ein populäres soziales Netzwerk. Doch | |
dann kam Facebook – und damit begann der Abstieg. MySpace gilt heute als | |
tot, es gibt kaum noch aktive Nutzer. Doch der Datenverlust macht deutlich, | |
dass das Vergessen nicht gerichtlich angeordnet werden muss, sondern auch | |
durch technisches oder menschliches Versagen geschehen kann. | |
Wissen ist in der Geschichte immer wieder vernichtet, verworfen, verborgen | |
oder aufgegeben worden, sei es durch Brände, Bücherverbrennung oder | |
schlichtes Aussortieren. Der britische Historiker Peter Burke beschreibt in | |
seinem Buch „Die Explosion des Wissens“, wie im 18. Jahrhundert erstmals | |
der Gedanke aufkam, Bücher nicht deshalb zu vernichten, weil sie ketzerisch | |
oder subversiv waren, sondern weil sie schlicht nutzlos erschienen. | |
Bibliotheken sortierten immer wieder Bestände aus, um Platz für neues | |
Wissen zu schaffen. | |
## Trump-Tweets müssen aufbewahrt werden | |
Das gilt auch für digitale Bestände. Die Online-Enzyklopädie Wikipedia | |
löscht regelmäßig Artikel – das Portal „Deletionpedia“, das es sich zur | |
Aufgabe machte, gelöschte Artikel aufzubewahren, wurde 2009 eingestellt, | |
was ja auch ein Indiz für die Vergeblichkeit totaler Speicherung ist. Auch | |
die Library of Congress, die seit 2010 jeden Tweet archivierte und bis 2013 | |
auf eine stattliche Sammlung von 170 Milliarden Kurznachrichten kam, | |
[6][hat dieses babylonische Unternehmen 2017 aufgegeben] – das Datenvolumen | |
war schlicht zu groß. | |
Einzig die Tweets von Donald Trump müssen nach Vorgabe des Presidential | |
Records Act of 1978 von Amts wegen aufbewahrt werden – auch die, die er | |
gelöscht hat. Der Rechtsakt wurde erlassen, um zu verhindern, dass die | |
Tonbandmitschnitte von Gesprächen mit Ex-Präsident Richard Nixon vernichtet | |
werden. Die Demokratie erhält sich ein langes Gedächtnis. | |
13 Feb 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://web.archive.org/ | |
[2] https://www.bbc.com/news/science-environment-31450389 | |
[3] https://archiveprogram.github.com/ | |
[4] /Beschluss-fuer-das-Recht-auf-Vergessen/!5641007 | |
[5] /Datenverlust-bei-MySpace/!5581108 | |
[6] https://www.npr.org/sections/thetwo-way/2017/12/26/573609499/library-of-con… | |
## AUTOREN | |
Adrian Lobe | |
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