| # taz.de -- Massenentlassungen in der Türkei: Staatstheater tragen Trauer | |
| > Viele Mitarbeiter der türkischen Staatsbühnen erhielten zu Jahresbeginn | |
| > „gelbe Umschläge“. Die Opposition vermutet dahinter politische Willkür. | |
| Bild: Das Atatürk-Kulturzentrum (hier 2013) auf dem Taksim-Platz in Istanbul w… | |
| ISTANBUL taz | Für viele Schauspieler, Bühnenarbeiter und anderes Personal | |
| an den türkischen Staatsbühnen begann das Jahr mit einem Paukenschlag. Sie | |
| erhielten „gelbe Umschläge“, mit denen ihnen ihre fristlose Kündigung | |
| mitgeteilt wurde. Bei einigen kamen die Umschläge nur Stunden vor einer | |
| Aufführung – sie durften dennoch nicht mehr auf die Bühne. | |
| In der südtürkischen Metropole Adana traf es sogar den Hauptdarsteller des | |
| Abends. Das Stück „Die Schöne von Miletos“ musste daraufhin abgesagt | |
| werden. Auch andere Vorstellungen wurden verschoben oder abgesagt. Nach | |
| Angaben der Gewerkschaft Kültür Sanat-Sen (Kunst und Kultur) wurden bislang | |
| insgesamt 90 Mitarbeiter der Staatstheater und 57 Mitarbeiter der | |
| staatlichen Opern entlassen. Nach Presseberichten von Ende letzter Woche | |
| kann sich die Zahl noch bis auf 300 erhöhen. | |
| Deniz Özsaygı, Sprecherin der Gewerkschaft, sagte, nach ihren Informationen | |
| standen die jetzt gefeuerten Mitarbeiter auf einer schwarzen Liste, die die | |
| Generaldirektion der Staatstheater und staatlichen Opern vom | |
| Kulturministerium bekommen hatte. Manchen der Gekündigten sei mitgeteilt | |
| worden, sie hätten eine „Sicherheitsüberprüfung“ nicht bestanden. | |
| Die Gewerkschaft und Vertreter der [1][Opposition] vermuten, dass es sich | |
| bei den Entlassungen um eine Säuberungsaktion gegen politisch missliebige | |
| Mitarbeiter handelt. Man habe auch anhand der Social-Media-Aktivitäten der | |
| Betreffenden überprüft: „Ist er/sie für uns oder gegen uns“, vermutet De… | |
| Özsaygı. | |
| ## Nachfragen zu den Gründen der Entlassungen | |
| Alpay Antmen von der [2][CHP] hat im Parlament eine Anfrage an das | |
| Kulturministerium gestellt, ob Aktivitäten in den sozialen Medien ein Grund | |
| für die Entlassungen war. Statt des Kulturministeriums gab die | |
| Generaldirektion der staatlichen Bühnen eine schriftliche Erklärung ab, in | |
| der sie sich gegen die Vorwürfe verwahrte. | |
| Bei den betroffenen Mitarbeitern seien die Verträge zur Jahresfrist | |
| ausgelaufen. Für eine Verlängerung der Verträge müssten die Mitarbeiter | |
| neue Kriterien und Bedingungen erfüllen, die bei einigen nicht mehr gegeben | |
| gewesen wären. Das sei ein ganz normaler Vorgang und von den Medien | |
| übertrieben und gefälscht dargestellt worden. | |
| In der Türkei gibt es landesweit 40 staatliche Bühnen, allein 17 davon in | |
| Istanbul und Ankara. Die prominenteste staatliche Bühne und die Oper liegen | |
| allerdings schon länger brach. Sie gehörten zum [3][Atatürk-Kulturzentrum] | |
| am [4][Taksim-Platz] in Istanbul. Dieses Kulturzentrum stand beispielhaft | |
| für den Konflikt zwischen der AKP-Regierung und den staatlichen Bühnen, die | |
| allesamt in der Republikzeit der Türkei gegründet wurden und zur | |
| kulturellen Annäherung des Landes an Europa beitragen sollten. | |
| Sie waren der islamischen AKP deshalb von Beginn ihrer Regierung 2003 an | |
| ein Dorn im Auge. Das Atatürk-Kulturzentrum wurde bereits 2008 wegen | |
| angeblicher baulicher Mängel stillgelegt, aber dann nicht, wie zunächst | |
| versprochen, saniert, sondern im Mai 2018 abgerissen. Präsident Tayyip | |
| Erdoğan lässt nun an gleicher Stelle ein [5][neues großes Kulturzentrum] | |
| bauen, über dessen spätere inhaltliche Ausrichtung aber noch nichts bekannt | |
| ist. | |
| ## Türkische Stücke, die das Heimatgefühl stärken | |
| Bekannt ist dagegen, dass der bis vor Kurzem amtierende Generaldirektor der | |
| staatlichen Bühnen, Nejat Birecik, schon vor einiger Zeit verkündet hatte: | |
| „Wir öffnen unsere Bühnen nur noch für türkische Stücke, die das | |
| Heimatgefühl stärken.“ | |
| Freie Theater, die die ideologischen Vorgaben der AKP-Kulturpolitik | |
| missachten, müssen mit Repressalien rechnen. Letztes Jahr wurde die | |
| Aufführung eines Stückes mit Polizeigewalt verhindert, weil der Titel „Nur | |
| ein Diktator“ unbotmäßige Kritik befürchten ließ. Einer der prominentesten | |
| Schauspieler und Regisseure, Memet Ali Alabora, wird im [6][Gezi-Prozess] | |
| mit weiteren 15 Personen angeklagt und mit lebenslanger Haft bedroht, weil | |
| er 2012 ein Theaterstück über einen Volksaufstand inszeniert hatte, das | |
| angeblich die Gezi-Proteste inspiriert haben soll. Alabora flüchtete nach | |
| London. | |
| Viele Aktivisten der freien Theater haben die Mitarbeiter an den | |
| staatlichen Bühnen seit Langem kritisiert, weil sie sich nicht gegen die | |
| inhaltliche Vereinnahmung durch die Regierung gewehrt haben. So | |
| veröffentliche der Verein der Kulturschaffenden der Theater (DETIS) | |
| folgende Erklärung: „Nach den gelben Umschlägen tragen die Staatstheater | |
| Trauer. Dieses dunkle Ende haben die Staatstheater sich mit ihrem | |
| Schweigen selbst zuzuschreiben.“ | |
| 14 Jan 2020 | |
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| [3] /Kulturzentrum-am-Taksimplatz/!5499416 | |
| [4] /LGBTI-in-Taksim-nach-Gezi-Protesten/!5599425 | |
| [5] /Opernbau-in-Istanbul/!5462067 | |
| [6] /Gezi-Prozess-in-Istanbul/!5605828 | |
| ## AUTOREN | |
| Jürgen Gottschlich | |
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