# taz.de -- Interview mit dem Autor Yavuz Ekinci: „Selbstzensur ist der Tod d… | |
> In Yavuz Ekincis neuem Roman glaubt die Hauptfigur, ein Prophet zu sein. | |
> Ein Gespräch über kurdische Literatur, Twitter und das virale Spektakel. | |
Bild: Der Protagonist in „Die Tränen des Propheten“ hat es schwerer als Je… | |
Mehdi, die Hauptfigur in Yavuz Ekincis neuem Roman „Die Tränen des | |
Propheten“, ist ein gewöhnlicher Mann mit gewöhnlichen Sorgen: Er hat eine | |
kleine Familie, ein hartnäckiges Hühnerauge und zu wenig Follower auf | |
Twitter. Dann erscheint Mehdi der Erzengel Gabriel. Fortan geht er als | |
Prophet durch die große Stadt, in der er lebt. Nur will niemand von ihm | |
gerettet werden – dabei hätte die Welt es bitter nötig. | |
Yavuz Ekinci lebt in Batman und Istanbul. Seine Romane erscheinen in der | |
Türkei beim renommierten Verlag Doğan. In deutscher Sprache sind zwei | |
Romane in der Übersetzung von Oliver Kontny im Kunstmann-Verlag erschienen. | |
Wir haben mit ihm über die Herausforderung, heute Prophet zu sein, über | |
soziale Medien und über kurdische Literatur gesprochen. | |
Taz.gazete: Herr Ekinci, der Protagonist Ihres neuen Romans glaubt, Prophet | |
zu sein. Sie erzählen Mehdis Geschichte in einem Wirrwarr von Schmerz, | |
Gewalt und groteskem Humor. War es schwierig, das Gleichgewicht zu finden? | |
Yavuz Ekinci: Es war eine Gratwanderung. Mehdi ist in vielerlei Hinsicht | |
eine Parodie historischer Prophetenfiguren, aber er ist auch Zeitzeuge und | |
so etwas wie das Gewissen unserer Gegenwart. Alle historischen Propheten | |
hatten jemanden, der oder dem sie sich anvertrauen konnten, nachdem sie | |
berufen waren – Muhammed hatte seine Frau Khadija und Jesus seine Jünger. | |
Aber Mehdi als heutiger Mensch hat diese Möglichkeit nicht. Das erzählt | |
etwas über die Lebensbedingungen in unserer Zeit. Als Mehdi seiner Frau | |
erzählt, dass ihm der Erzengel Gabriel erschienen ist, wirft sie ihm vor, | |
schizophren zu sein und damit ist das Thema für sie durch. | |
Ein Prophet also, dem niemand zuhört? | |
Mehdi ist ein sozial scheuer Mensch und der Friseur, der Bäcker und der | |
Fischhändler sind die Personen, zu denen er am meisten Kontakt hat. Er | |
versucht, sich ihnen zu erklären, und natürlich entsteht daraus eine | |
komische Situation. Denn Mehdi ist im Grunde komplett hilflos. Er hat auch | |
keine Lösungen für die brennenden Probleme unseres Zeitalters, er ist nicht | |
anders als Sie und ich. Das macht ihn zu einer zutiefst seltsamen Figur. Es | |
war nicht einfach, diese fragile Balance zwischen Parodie und Zeugenschaft | |
aufrechtzuerhalten. | |
Was sagt das über die heutige Zeit aus? | |
Mehdi, der Prophet, ist eigentlich ein Symbol. Er sieht alles, aber kann | |
nichts verändern. Er windet sich in seiner Ohnmacht, so wie Tausende von | |
Menschen, die heute sehen, wie die Welt sich in eine ganz schlechte | |
Richtung verändert. Mehdi verwendet Twitter, um seine tiefgründigen | |
Ansichten über das Leben zu verbreiten, bekommt aber wenig Reaktion. Auch, | |
als er Leute von seinem Prophetendasein überzeugen will, hat er keinen | |
großen Erfolg. | |
Machen soziale Medien es einfacher, Botschaften zu verbreiten und mit | |
Menschen ins Gespräch zu kommen? | |
Soziale Medien werden immer wichtiger in unserem Leben. Was wir denken, | |
teilen wir über Twitter. Was wir sehen, zeigen wir auf Instagram. Was wir | |
gern hören, teilen wir über Musikplattformen. Diese Dienste werden weniger | |
für zwischenmenschliche Dialoge benutzt, sondern vielmehr, um sich selbst | |
zu präsentieren. Also im Prinzip, um sich zu offenbaren. Mächtige | |
Staatspräsidenten verkünden ihre Stellungnahmen zu diplomatischen Fragen | |
über Twitter, Firmenriesen machen ihre Öffentlichkeitsarbeit über soziale | |
Medien. | |
Welche Rolle spielen soziale Medien in der Türkei? | |
In der Türkei gibt es Zeitungen und sogar TV-Formate, die soziale Medien | |
als Nachrichtenquellen nutzen. Denn die traditionellen Medien sind in | |
ideologische Lager gespalten. Ich sehe durchaus, dass soziale Medien ein | |
gewisses Manipulationspotential haben. Aber die etablierten Medien in der | |
Türkei werden leider noch sehr viel stärker manipuliert. Zeitungen werden | |
geschlossen, Journalist*innen entlassen oder aufgrund ihrer Arbeit | |
inhaftiert. Allein schon deshalb sind wir in der Türkei in den letzten | |
Jahren darauf angewiesen, unsere Informationen aus den sozialen Medien zu | |
bekommen. Das heißt aber nicht, dass soziale Medien dabei helfen, mit | |
Menschen ins Gespräch zu kommen. | |
Ob man Prophet ist oder nicht hat also keine unmittelbare Auswirkung auf | |
die eigene Reichweite? | |
Man kann potentiell weltbewegende Gedanken absondern – wenn niemand sie | |
anklickt, verschwinden sie in den Weiten des Weltalls. Man existiert so | |
weit, wie man Follower hat. Mehdi – der wie gesagt ebensosehr ein Symbol | |
ist wie eine Person – ist komplett hilflos im Umgang mit den sozialen | |
Medien, das ist für ihn ein großes Dilemma. Wenn jemand heute mit dem | |
Anspruch auftritt, Prophet zu sein, werden die meisten Leute erst einmal | |
schauen, wie viele Follower er oder sie hat. Wie viele Retweets und Likes | |
gibt es? Das war für Moses, Jesus und Muhammad leichter. Dank Gottes | |
Eingreifen konnten sie per Wunder sämtliche Probleme lösen. Aber welche Art | |
Wunder können wir von den sozialen Medien erwarten? Es ist heute sehr | |
herausfordernd, Prophet zu sein. | |
Gegen Ende des Romans wird Mehdi in einer Bar verprügelt. Die Aufnahmen | |
dieses Vorfalls gehen viral und er wird zu einem Online-Phänomen. Was sagt | |
das über die Reaktionsschemata der heutigen Menschen in densozialen Medien? | |
Mehdi ist für die Propheten das, was Don Quichote für das Rittertum war. | |
Man weiß nicht genau, wer das Opfer und wer der Held ist. Die Impulskraft | |
des Viralen ergibt sich eher aus der Form als aus dem Inhalt. Es ist | |
unerheblich, ob Opfer oder Täter gezeigt werden, ob die Leute die Inhalte | |
wunderbar oder ekelerregend finden. Was ich daran gefährlich finde, ist, | |
dass das Ethische und Politische hinter das Spektakel des Viralen | |
zurücktritt. Die Menschen werden von der bloßen Form des Sichtbarwerdens | |
beeinflusst. Nach kurzer Zeit vergessen sie die Inhalte und erregen sich | |
über etwas Neues. Es ist im Prinzip also egal, ob Mehdi von den Massen | |
gefeiert oder verlacht wird, sein Auftritt wird in dem Maße viral, wie er | |
in die Schemata der sozialen Medien reinpasst. | |
Mehdi kam mir trotz seiner Vorliebe für neue Technologien oft sehr zeit- | |
und alterslos vor. Was ist er eigentlich: ein tragischer Held, ein | |
Verrückter? Oder einfach jemand, der zu viel Empathie empfindet? | |
Mehdi registriert alles, was um ihn herum geschieht, aber er kann sich den | |
Menschen nicht vermitteln. Ihre Ohren sind ihm gegenüber taub und ihre | |
Augen blind. Er leidet darunter, sich nicht ausdrücken zu können und nichts | |
Kreatives zu produzieren. Vielleicht ist er gar schizophren, wie seine Frau | |
sagt. Immerhin erklärt er den Gewerbetreibenden aus seinem Viertel, dass | |
ihm Gabriel erschienen sei und ihn zum Propheten ernannt habe. Dann will er | |
sich der Handvoll Menschen mitteilen, mit denen er in den sozialen Medien | |
vernetzt ist. Sein Hühnerauge ist seine stärkste Verbindung zum echten | |
Leben. Darüber kann er mit anderen kommunizieren: Er will es behandeln | |
lassen und klagt über Schmerzen. Diese Wunde ist etwas Persönliches. Ich | |
würde sagen, Mehdi empfindet zu viel Empathie. Er ist weder ein tragischer | |
Held noch ein Verrückter, sondern wie wir alle ohnmächtig gegenüber dem, | |
was in unserer Welt passiert. | |
Können Sie aus Ihrer Sicht kurz beschreiben, wie es ist, in der Türkei zu | |
schreiben und zu veröffentlichen – wie ist die Situation für Autor*innen | |
derzeit? | |
Said Nursi sagte: “Ich kann ohne Brot leben aber nicht ohne Freiheit.“ Die | |
Türkei wird Tag um Tag autoritärer. Menschenrechte, Grundfreiheiten, das | |
Recht auf Leben und die Gerechtigkeitsgefühle der Menschen sind ernsthaft | |
in Gefahr. Unsere Freiräume werden jeden Tag enger. Aber vor 40 Jahren war | |
es auch nicht anders. Die türkische Literaturgeschichte ist voller | |
Autor*innen, die im Gefängnis saßen. Festnahmen, Ermittlungen und Verfahren | |
sind für Schriftsteller*innen Alltagserfahrungen. Wenn man eine Anthologie | |
über Gefängnisliteratur herausgeben würde, hätte man die besten Namen der | |
türkischen Lyrik und Prosa. Und in Zeiten wie diesen, wo es kaum noch | |
gesellschaftliche Freiräume gibt, bekommt das Schreiben ja auch nochmal | |
eine andere Bedeutung. Ich glaube, der wirkliche Tod eine*r Autor*in ist | |
die Selbstzensur. Das ist Kapitulation, das ist das Ende jeder | |
Produktivität. Und ich fürchte, das wird die größte Bedrohung für Literatur | |
in den kommenden Jahren, dass sich Autor*innen unter dem Druck der | |
Verhältnisse der Selbstzensur beugen. | |
Sie veröffentlichen als Herausgeber auch andere kurdische Autor*innen. Wie | |
würden Sie die Gemeinschaft kurdischer Schriftsteller*innen beschreiben? | |
Gibt es viel Solidarität und gegenseitige Unterstützung? | |
Es gibt viel gegenseitige Unterstützung und gleichzeitig zu wenig. Die | |
Solidarität unter den kurdischen Autor*innen in der Türkei ist sehr stark. | |
Aber es gibt kaum Austausch mit den kurdischen Autor*innen im Iran, Irak, | |
Syrien und Armenien und in der weltweiten Diaspora. Insgesamt ist die | |
Vernetzung noch sehr schwach. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die | |
Siedlungsgebiete der Kurd*innen unter vier Staaten aufgeteilt. Kurdische | |
Autor*innen schreiben in drei verschiedenen Alphabeten. Es gibt kaum | |
gemeinsame Institutionen oder etablierte Verlage. Die Sprache und die | |
Kultur sind Gegenstand staatlicher Repressionen. Der Avesta-Verlag, der | |
meine Bücher auf Kurdisch verlegt, hat in den letzten zwei Jahren mit | |
mehreren Gerichtsurteilen zu kämpfen, die den Vertrieb ihrer Bücher | |
untersagen. | |
Es gibt nur wenige kurdische Autor*innen, die ins Deutsche übersetzt | |
werden. Wie sehen Sie Ihre Rolle als kurdischer Schriftsteller mit | |
internationalem Publikum? | |
Es ist nicht einfach, Kurde zu sein. Noch schwerer ist es, kurdischer Autor | |
zu sein. Meine einzige Rolle ist zu schreiben. Wenn ich mich mit meinem | |
Gewissen auseinandersetze, dann tue ich das nicht unter dem Etikett | |
kurdischer Autor, auch nicht in dem Glauben, ich sei einfach nur | |
Schriftsteller, sondern ich tue das als Mensch. Es kommt vor, dass meine | |
Geschichten als spezifisch kurdisch gelesen werden, oder dass man von mir | |
erwartet, mich wie ein Politiker zu äußern. Aber ich schreibe weder als | |
Augenzeuge, noch als Politiker über die Kriege, die wir erleben. Ich | |
versuche zu verstehen, welche Wunden diese Gewalt in die Seele der Menschen | |
reißt. Damit bin ich nicht ein Autor des kurdischen Volkes, sondern jemand, | |
der die Geschichten aller Menschen erzählt, die Vergleichbares erlebt | |
haben. Ich bin Mehdi, der an allem leidet, was um ihn herum geschieht, und | |
noch dazu an seiner Ohnmacht leidet, das Gesehene angemessen zu erzählen. | |
Dem die Menschen lieber davonlaufen als ihm zuzuhören. | |
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny | |
12 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Jana Volkmann | |
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