| # taz.de -- Gezi-Prozess in Istanbul: Eine groteske Anklage | |
| > Beim Gezi-Prozess stehen 16 Personen vor Gericht. Sie werden beschuldigt, | |
| > die Gezi-Proteste organisiert zu haben, um die Regierung zu stürzen. | |
| Bild: Die Staatsanwaltschaft meint, die Gezi-Proteste seien eine Verschwörung … | |
| Auf der Fahrt zum Auftakt des Gezi-Prozesses am Montag staute sich der | |
| Verkehr am Kontrollpunkt der Gendarmerie. Wer die Kontrolle passierte, sah | |
| auf dem Parkplatz Hunderte von Menschen, die auf dem Weg zum 80 Kilometer | |
| von Istanbul entfernten Hochsicherheitsgefängnis Silivri waren. Diese | |
| Szenerie vor dem Prozess, der im Gericht des Hochsicherheitsgefängnisses | |
| Silivri begann, erinnerte an den Cumhuriyet-Prozess. | |
| Das Interesse am Gezi-Prozess ist groß: Unter den 16 Angeklagten sind | |
| bekannte Vertreter*innen der türkischen Zivilgesellschaft wie der | |
| Kulturmäzen Osman Kavala, der Schauspieler Mehmet Ali Alabora, der | |
| Journalist Can Dündar, die Architektin Mücella Yapıcı und zwölf weitere | |
| Gezi-Aktivist*innen. Die 657-seitige Anklageschrift legt ihnen zur Last, | |
| die Gezi-Proteste im Frühsommer 2013 organisiert zu haben. Sie stützt sich | |
| unter anderem auf abgehörte Telefonate und Twitter-Nachrichten, darunter | |
| auch abgehörte Gespräche aus dem Jahr 2009. Auch deutsche Stiftungen und | |
| ein Diplomat werden in der Anklage erwähnt. | |
| Die Staatsanwaltschaft fordert für die 16 Angeklagten lebenslange Haft | |
| unter erschwerten Bedingungen. Angeblich seien die Gezi-Proteste ein | |
| „Putschversuch“ gewesen, die Angeklagten hätten sie organisiert und | |
| finanziert. In der Anklage heißt es konkret: „Bestreben, die Regierung der | |
| türkischen Republik abzuschaffen oder sie an der Ausübung ihrer Pflicht zu | |
| hindern.“ | |
| Zum Prozess, der mit einem großen Aufgebot an Sicherheitskräften begann, | |
| waren Konsulatsvertreter*innen bis hin zum Generalkonsul aus der Schweiz, | |
| den USA, Schweden, Kanada, Frankreich und den Niederlanden sowie der | |
| deutsche Generalkonsul in Istanbul, Michael Reiffenstuel, anwesend. Auch | |
| europäische Politiker*innen wie Claudia Roth und Rebecca Harms sowie | |
| Abgeordnete des türkischen Parlaments wie Mahmut Tanal, Sezgin Tanrıkulu, | |
| Ahmet Şık und Garo Paylan sind gekommen. Roth bezeichnete den Prozess als | |
| „Farce“ und als ein „brandgefährliches Verfahren“, mit dem versucht we… | |
| die türkische Zivilgesellschaft zu kriminalisieren. | |
| ## Seit 600 Tagen ohne Anklageschrift hinter Gittern | |
| Als die inhaftierten Angeklagten Osman Kavala und Yiğit Aksakoğlu in den | |
| Saal geführt wurden, brandete Applaus auf. Der Vorsitzende Richter Utku | |
| Ercan duldete den Applaus. Kavala sitzt seit 600 Tagen hinter Gittern. Auf | |
| den Gesichtern einiger nicht inhaftierter Angeklagter stand die | |
| Verwunderung darüber zu lesen, wie ihnen das Ganze überhaupt passieren | |
| konnte. | |
| An diesem ersten Verhandlungstag wurde deutlich, dass die Angeklagten sich | |
| nicht auf eine gemeinsame Verteidigungsstrategie verständigt haben. Manche | |
| betonten die Werte von Gezi, andere wiesen darauf hin, dass ursprünglich | |
| Staatsanwälte aus der Gülen-Bewegung, in der Türkei allgemein als | |
| Gülen-Terrororganisation FETÖ bezeichnet, die Ermittlungen eingeleitet | |
| hätten. | |
| Die Ermittlungen waren bereits im März 2014 aufgenommen worden, im April | |
| 2015 wurden dann alle Angeklagten freigesprochen. Im Oktober 2017 wurde | |
| Osman Kavala am Istanbuler Flughafen festgenommen und saß seitdem ohne | |
| Anklageschrift in Untersuchungshaft. Ihm wird vorgeworfen, die | |
| Demonstrationen rund um Gezi mit ausländischer Hilfe finanziert zu haben. | |
| Im März 2019 wurde schließlich aus unerfindlichen Gründen sechs Jahre nach | |
| den Protesten eine zweite Anklageschrift vom Gericht angenommen und der | |
| Gezi-Prozess neu aufgelegt. Gegen den Staatsanwalt Muammer Akkaş, der | |
| diesen zweiten Prozess angestrengt hatte, wird inzwischen wegen | |
| Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung ermittelt. Er ist derzeit flüchtig. | |
| ## Zusammengereimte Anklageschriften | |
| Die Vorwürfe in der Anklageschriften des Gezi-Prozesses sind vage und | |
| substanzlos. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kritisierte, | |
| dass sie „keine glaubwürdigen Beweise für kriminelle Aktivitäten | |
| enthalten“. Deshalb war den Verteidigungsreden im Saal eines gemein: Den | |
| Angeklagten fiel es schwer, die gegen sie erhobenen Vorwürfe | |
| nachzuvollziehen. | |
| Während seiner Verteidigung wirkte Kavala sortiert, er sprach ruhig, | |
| fragte, warum er in Untersuchungshaft sitze: „Es gibt keinen einzigen | |
| Beweis dafür, dass ich Gezi finanziert habe. Das steht auch in den | |
| Berichten der Ermittlungsbehörde für Finanzkriminalität. Trotzdem bin ich | |
| weiter in Haft. Auf welche Beweise stützt man sich dabei?“ | |
| In der Anklageschrift steht, die Stiftung „Offene Gesellschaft“, deren | |
| Mitglied Kavala ist, sei mit George Soros’ Open Society Foundations | |
| verbandelt. Dieses Institut plane Aufstände in verschiedenen Ländern. In | |
| seiner Verteidigungsrede sagte Kavala weiter: „Ich hatte weder geheime | |
| Pläne noch Beziehungen zu irgendwelchen ominösen Gemeinschaften.“ Die | |
| Anklageschrift bezeichnete er als ein „fantastisches Szenario“. | |
| Mücella Yapıcı von der Plattform Taksim-Solidarität erinnerte in ihrer | |
| Verteidigungsrede daran, dass sie in dem vorangegangenen Prozess mit | |
| ähnlichen Anschuldigungen und ähnlicher Beweislage freigesprochen worden | |
| war. „Nach sechs Jahren stehe ich mit derselben Anklageschrift mit | |
| denselben Forderungen erneut vor Gericht. Jetzt soll ich zu | |
| lebenslänglicher Haft unter erschwerten Bedingungen, zu 2.970 Jahren | |
| Gefängnis und 160.000 Lira Geldstrafe verurteilt werden. Da frage ich doch: | |
| Wie soll ich mich jetzt verteidigen?“ | |
| Fast alle Journalist*innen und Prozessbeobachter*innen erwarteten, das war | |
| den Gesprächen in den Verhandlungspausen zu entnehmen, dass die beiden | |
| Inhaftierten am Ende des nächsten Verhandlungstags am Dienstag freigelassen | |
| werden. Einige, die zum Prozess gekommen waren, stimmte der Wahlsieg des | |
| CHP-Kandidaten Ekrem İmamoğlu bei der Bürgermeisterwahl in Istanbul am | |
| Sonntag und die damit einhergehende vertrackte Lage der AKP optimistisch. | |
| Andere waren zuversichtlich, weil der Vorsitzende Richter Applaus im Saal | |
| zugelassen hatte. | |
| Am Dienstagabend entschied das Gericht, dass der seit rund acht Monaten | |
| inhaftierte Angeklagte Yiğit Aksakoğlu freigelassen wird. Osman Kavala muss | |
| weiterhin im Gefängnis bleiben. Die nächste Verhandlung findet am 18. Juli | |
| statt. | |
| Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe | |
| 25 Jun 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Barış Altıntaş | |
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