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# taz.de -- Der Berliner Noise-Musiker Joke Lanz: Tröpfeln wie bei einer Wasse…
> In „My Life Is a Gunshot“ begleitet Marcel Derek Ramsay den Berliner
> Noise-Musiker Joke Lanz. Jähe Brüche prägen Werk und Leben.
Bild: Hinter den extrem anmutenden Performance steckt ein Schnitt durch die See…
„Halte mich“: Zweimal haucht ein tätowierter Dunkelträger die beiden Worte
in sein Mikrofon; er kreuzt dabei die Arme über die Schultern, als friere
er. Seine Gestik, die weit aufgerissenen Augen und die
Schwarz-Weiß-Ästhetik bezwecken, dass die halbrunde Bühne mit ihrem
Treppenpodest wie in einem expressionistischen Stummfilm ausgeleuchtet
wirkt. Die Treppe am Bühnenrand führt je nach Standpunkt zu den Schatten
oder ins Licht, aus Sicht des Tätowierten auf jeden Fall nach unten.
Noch ein drittes Mal wird er „Halte mich“ fordern; nur haucht und fleht er
nicht mehr, er brüllt. Und da er sein Verlangen auf Englisch artikuliert,
klingt das „Hold me“ einem „Hurt me“ gleich, doch meint der Dunkle
tatsächlich „Halte mich“.
Schnitt, und der eben noch auf der Bühne stand, fährt jetzt Zug. Das tut er
in Farbe. Die Tonspur könnte ein kreischendes Gleisbett sein, doch ist sie
eine schrillende Rückkopplung, am Fenster jagen Baumschemen vorbei.
Bis nach Kairo wird es den Reisenden in dem Dokumentarfilm führen, den sein
Freund Marcel Derek Ramsay mit und für Joke Lanz, so heißt der
Haltsuchende, gedreht hat.
## Eine Legende an Orten des Experiments
Lanz, in Basel geborener [1][Noise-Musiker], hat unter diesem Namen in den
letzten zwei Jahrzehnten fast 15 Alben veröffentlicht, bereits seit 1991
jedoch [2][unter dem Alias Sudden Infant] noch einmal knapp 40 an der Zahl.
„Radiorgasm“, die erste dieser Platten, war übrigens eine der allerersten,
die es Anfang der Neunziger im legendären Prenzlauer Berger Plattenladen
Freak Out zu erstehen gab.
Dass Ramsay den Film über seinen Musikerfreund mit der Anfangssequenz des
Albums, einem enervierenden Tröpfeln wie aus einer Wasserfolter, eröffnet
und mit einem Auftritt von Lanz im Ausland, der langgedienten Bühne für
experimentelle Musik ebenfalls in Prenzlauer Berg, beschließt, das zieht
einen schönen Kreis. Joke Lanz übrigens ist seit Längerem Berliner.
Ramsay allerdings begleitet Lanz nicht nur nach Ägypten zu einem
Musikworkshop, sondern bis auf ein Häuserdach in Wohlen, einer Schweizer
14.000-Einwohner-Stadt, in die es Lanz’ Vater von Berufs wegen und mit ihm
die Familie aus der Großstadt Basel verschlug. Auf Wohlen blickend wird der
Titel des Films erklärt: „My Life Is a Gunshot“, das ist keine bescheuerte
Metapher für ein im grandiosen, kurzen Rausch abgerocktes Leben, sondern
meint, was nach dem Film als die Urszene des Joke Lanz verstanden werden
kann.
## Hier ist es passiert
Es hat etwas zu Naheliegendes, in jedem musikalischen Quälgeist ein
biografisches Trauma zu vermuten, hinter jeder extrem anmutenden
künstlerischen Äußerung den Schnitt durch die Seele suchen zu wollen; hier
aber ist es passiert. 13 Jahre jung war der Sohn, als der Vater, einer, der
offenbar mehr leisten wollte, als Dienst zu leisten, sich auf dem
Häuserdach mit dem Sturmgewehr erschoss.
Und bei aller gebotenen Um- und Vorsicht mit solchen Interpretationen: Die
abrupten, jähen Brüche in Lanz’ Musik, die kurzen, wechselnden
Geräuschsequenzen, die oft gar nicht erst so etwas wie Gewöhnung zuzulassen
scheinen, selbst die Pausen – Lanz ist ein Könner in ihnen – kriegen in �…
Life Is a Gunshot“ eine konkret schmerzhafte Ebene.
Dann aber sieht und hört man Lanz mit dem Jazzmusiker Christian Weber ein
Duokonzert geben: Weber an einem stabilen Kontrabass, Lanz an den
Turntables mit LPs vom Flohmarkt: Die Scheiben feixen und giggeln, der Bass
geht gemächlich mit ihnen flanieren, es ist eine Freude. In einer anderen
Episode unternehmen Lanz und die aus der New Yorker Experimentalszene
stammende Stimmakrobatin Shelley Hirsch einen Winterspaziergang. Sie
passieren eine Skulptur, in der Lanz einen Vater sieht, der seine zwei
Söhne trägt. Er und Hirsch geben einen grandiosen Workshop für Kinder; ein
Publikum für sich, bemerkt Lanz.
Von Hirsch und Lanz liegt seit 2012, von Weber und Lanz seit 2016 ein
gemeinsames Album und seit Oktober vorigen Jahres eine Quintetteinspielung
mit den Impromusikern Jason Kahn, Norbert Möslang und Günter Müller vor.
Einer ist bei Joke Lanz schon länger dabei: Céleste Urech, sein Sohn, der
im zarten Alter von drei Jahren auf der 1993 aufgenommenen LP „Schnäbi
Gaggi Pissi Gaggi“ trommelte. Ein Vierteljahrhundert später richten beide
im Film eine Performance aus. Der eine hält abwechselnd den anderen.
16 Jan 2020
## LINKS
[1] /Dokumentarfilm-ueber-Noise-Band-Swans/!5651289
[2] /Archiv-Suche/!202203&s=Joke+Lanz&SuchRahmen=Print/
## AUTOREN
Robert Mießner
## TAGS
Noise
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