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# taz.de -- Boykott-Kampagnen in Armenien: Im richtigen Film
> Aus der früheren Gewichtheberin Meline Daluzjan ist ein Mann geworden.
> Die Reaktionen in Armenien sind extrem transphob.
Bild: Aus der Heimat geflüchtet: Mel Daluzjan lebt heute in den Niederlanden
In Armenien war sie eine Spitzensportlerin, bejubelt als zweifache
Europameisterin im Gewichtheben. Seit drei Jahren lebt Mel Daluzjan nun in
den Niederlanden, als Transmann. Ein lebenslang gehegter Wunsch, der
Wirklichkeit wurde. „Als junges Mädchen habe ich immer davon geträumt,
eines Tages aufzuwachen und zu bemerken, dass ich über Nacht zum Jungen
geworden bin. Ich habe immer an Wunder geglaubt“, erzählt Mel Daluzjan
[1][im Trailer] des Dokumentarfilms „Mel und Meline“.
Der Film erzählt die Geschichte des 31-jährigen Mel Daluzjan, der sein
Leben als Meline Daluzjan begann, Erfolge im Sport feierte, und schließlich
den Traum, zum Mann zu werden, verwirklichte. Und davon, wie hart dieser
Weg war, wie gnadenlos Transphobie ist.
„Mel und Meline“ ist noch nicht einmal fertig geschnitten und vertont, aber
schon der Trailer zum Film hat ganz Armenien aufgerüttelt. Es kam zu
Straßenprotesten, auch das Parlament debattierte über den Film.
Premierminister Nikol Paschinjan bezog deutlich Stellung. „Mel Daluzjan
steht unter meinem persönlichen Schutz“, erklärte er auf Fragen der
Abgeordneten im armenischen Parlament. Die Öffentlichkeit trage Schuld
daran, dass Daluzjan seine Heimat verlassen habe und sogar versucht habe,
sich das Leben zu nehmen. Der heutige Premier, der als Oppositionspolitiker
im Frühjahr 2018 Hunderttausende gegen das korrupte Regime auf die Straße
gebracht hatte und schließlich durch eine „samtene Revolution“ an die Macht
kam, versucht, auch eine Revolution der Werte zu initiieren.
## Prügelnder Trainer
Seine Regierung steuert etwa 38.000 Euro zu der Filmproduktion „Mel &
Meline“ bei, was etwa 14 Prozent des gesamten Filmbudgets entspricht. Damit
will der Premier das bis heute konservative Image der Regierung ändern und
endlich alle BürgerInnen repräsentieren. „Daluzjan hat sich als Mensch hohe
Verdienste um die armenische Geschichte erworben“, sagt Paschinjan.
Meline Daluzjan begann als 14-Jährige mit dem Training als Gewichtheberin.
Als 18-Jährige gewann sie 2006 bereits bei den Weltmeisterschaften Bronze
für Armenien. Vier Jahre später wiederholte sie das Kunststück. Bei den
Europameisterschaften holte sie gar in den Jahren 2007 und 2008 jeweils die
Goldmedaille in der Klasse bis 63 Kilo.
Doch während ihrer medaillenreichen Zeit hatte Meline große Probleme. Ihre
sexuelle Orientierung wurde in ihrem Sportumfeld nie akzeptiert. „Ich war
17 Jahre alt, als mein Trainer mich verprügelte, weil ich ein Mädchen
umarmt hatte“, berichtete Meline später in einer Dokumentation über LGBT in
Armenien mit dem Titel „Listen to Me“. Ihr Trainer verlangte von ihr, zu
schwören, dass sie nicht auf Mädchen stehe, obwohl genau das offensichtlich
war.
Einige Zeit später, 2016, erhielt Daluzjan Asyl in den Niederlanden. Die
Filmemacherin Inna Sahakjan dokumentierte seit mehreren Jahren Daluzjans
Lebensweg und will in einer gemeinsamen Filmproduktion mit der
niederländischen „Windmill Film“ auch die Problematik queeren Lebens in
Armenien darstellen.
## Wut und Hass
Der Trailer zu „Mel und Meline“ zeigt schon, wie Wut und Hass gegen Homo-
und Transsexuelle die armenische Gesellschaft prägen. „Sie dürfen nicht
leben“, sagt etwa ein junger Mann direkt in die Kamera. Eine Frau schreit
zornig: „Wir müssen sie an die Hunde verfüttern.“ Der Trailer endet damit,
dass Daluzjan lang ausgestreckt auf den Boden fällt. Eine Hantelscheibe im
Bild trägt den Schriftzug „London 2012“. In jenem Jahr gewann Daluzjan bei
den Olympischen Sommerspielen keine Medaille. Danach beendete sie ihre
Karriere. Im Dezember 2018 wurde bei [2][Nachtests] festgestellt, dass
Daluzjan mit Anabolika (Stanozolol und Oral-Turanibol) gedopt hatte.
Wann genau der Film 2020 herauskommt, verrät Filmemacherin Sahakjan nicht.
Die Produktion laufe derzeit noch. Die Geschichte der Leistungssportlerin
in dem 70-minütigen Film wolle die Frage beantworten, welchen Preis eine
Person zahlen muss, um endlich sie selbst zu werden. Und: Ist dieser Preis
es wert, wenn damit verbunden ist, Familie, Freunde und die Heimat
aufzugeben?
Obwohl den Film bislang noch niemand gesehen hat, laufen in Armenien schon
Boykott-Kampagnen. „Daluzjan kann einfach nicht einer von uns sein“, sagen
über 130 SportlerInnen und TrainerInnen in einer Erklärung. „Daluzjans
unanständiges Verhalten ist für die armenischen Sportwelt inakzeptabel, da
in der armenischen Sportwelt stets hohe moralische Werte und Traditionen
geschätzt werden“, lassen 27 Sportverbände gemeinsam verlauten.
Die Menschenrechtlerin Zaruhi Hovhannisjan sieht in der Mobilisierung von
SportlerInnen eine organisierte politische Aktion. Die Sportverbände, aber
auch einzelne LeistungssportlerInnen seien von einer Person, von Gagik
Zarukjan, stark abhängig. Er ist der Vorsitzende des armenischen
Olympischen Komitees, Multimillionär, Oligarch und Parteichef von
„Blühendes Armenien“, der zweitgrößten Partei im Parlament.
„Blühendes Armenien versucht, sich immer mehr als konservative Kraft zu
profilieren und dadurch mehr Wählerinnen und Wähler gegen die Regierung zu
mobilisieren. Die Partei ist erfolgreich, weil wir leider noch in einer
konservativen und patriarchalisch geprägten Gesellschaft leben“, erklärt
Hovhannisjan. Abgeordnete von „Blühendes Armenien“ würden die Gelegenheit
nutzen, um erneut eine Kampagne gegen die Ratifizierung der Istanbuler
Konvention loszutreten.
## Null Toleranz
Dem europäischen Abkommen von Istanbul zum Schutz vor Gewalt gegen Frauen
trat Armenien 2018 bei. Es war das erste Land des Südkaukasus unter den 45
Mitgliedsstaaten des Europarates, das die Konvention unterzeichnete. Bis
heute haben nur Aserbaidschan und Russland die Istanbuler Konvention noch
nicht unterzeichnet. 33 Länder haben sie bereits ratifiziert. Armenien will
das nächste sein – auch wenn viele das falsch finden. Konservative,
darunter die Opposition im Parlament, stützen die Konvention nicht. Sie
zerstöre die armenische Familie, heißt es in der öffentlichen Diskussion.
Hauptkritikpunkt in der heißen Debatte ist vor allem der Artikel 4 der
Istanbul-Konvention. Er sieht neben dem „biologischen“ auch ein „soziales…
Geschlecht vor.
„Das ist ein Versuch, die Perversion durch eine Konvention in unser Land zu
lassen“, sagte Gevorg Petrosjan von „Blühendes Armenien“. Der Politiker …
bekannt für seine Hetzkampagnen gegen LGBT-Menschen. „Ich habe null
Toleranz für Homosexualität“, sagt er, „und auch nicht für den Film über
Daluzjan und für die Regierung, die durch eine finanzielle Unterstützung
die Perversion in unserem Land predigt.“
Menschenrechtlerin Hovhannisjan sagt: „Ich dachte, dass durch solche
Figuren wie Mel Daluzjan Veränderungen im öffentlichen Bewusstsein möglich
werden und diese zu einer Antidiskriminierungsgesetzgebung beitragen
könnten.“ Sie erinnert an das Partnerschaftsabkommen zwischen der EU und
Armenien. Das Europäische Parlament hat die Südkaukasus-Republik
aufgefordert, die Gleichstellung der Geschlechter und den Kampf gegen
Diskriminierung von schutzbedürftigen Gruppen wie LGBT-Personen anzugehen.
Nun aber warnt Hovhannisjan vor einer neuen Eskalation in Armenien, wenn
der Film über die Athletin Meline, die zum Mann Mel wurde, ins Kino kommt.
Sie bedauert, dass Mel Armenien verlassen musste, und freut sich, dass er
in Amsterdam sein Glück finden konnte.
Daluzjan wohnt dort inzwischen mit seiner Freundin zusammen. Die OP zur
Entfernung der Brüste hat er längst hinter sich. Nun wartet er noch auf
einen operativen Eingriff, fernab von Armenien und dem einstigen Glanz der
Sportkarriere.
21 Dec 2019
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=w4BuhTU4Zgc
[2] https://www.spiegel.de/sport/sonst/doping-bei-nachtests-zu-london-2012-sind…
## AUTOREN
Tigran Petrosyan
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