Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Zukunft des Wohnens: Aufbauen statt wegwerfen
> Bauen verbraucht Ressourcen, es entsteht dabei auch viel C02. Wie wollen
> wir in Zukunft wohnen? Ein Besuch im ersten Recyclinghaus Deutschlands.
Bild: Das Recyclinghaus in Hannover war am Ende teurer als ein Neubau
Hannover taz | „Zuerst dachte ich, das Haus sieht ja aus wie ein U-Boot“,
sagt Achim Bothmann und platziert einen kupferfarbenen Wasserkessel auf
der Herdplatte seiner Kücheninsel. „Aber dann kam ich hier rein und hab
mich sofort verliebt. Wir alle haben uns verliebt.“
Auf den ersten Blick fällt Bothmanns Haus im Neubaugebiet
Hannover-Kronsberg nicht weiter auf. Nur die Fassade aus dunkelgrünblauem
Glas passt nicht so ganz zur uniformen Erscheinung der anderen Ein- und
Mehrfamilienbauten. Ein eingenetzter Tannenbaum verschwindet an diesem
Mittwoch vor Weihnachten fast vor der gleichfarbigen Wand. Achim Bothmann
lebt hier seit etwa einem Vierteljahr mit seiner Lebensgefährtin und zwei
Kindern. Seitdem hatten sie oft Besuch von der Presse, denn auch wenn es
nicht so aussieht, ist das Haus eine kleine Berühmtheit: Es ist das erste
Recyclinghaus Deutschlands.
Achim Bothmann trägt Brille und Ziegenbart. Der 58-Jährige arbeitet als
Bauingenieur, seine Lebensgefährtin ist Professorin für Grafikdesign. Bevor
sie in das Recyclinghaus zogen, lebte das Paar in getrennten Wohnungen,
jeweils auf über 100 Quadratmetern. Jetzt mietet ihre „Wohngemeinschaft“,
wie Bothmann sagt, das Recyclinghaus. Sie sind zu viert auf 150
Quadratmetern, in einem zweistöckigen Haus, das fast ausschließlich aus
recycelten Baumaterialien besteht.
Bothmann ist mittlerweile Hausführungs-Profi. Trotzdem schwingt noch
Begeisterung in seiner Stimme mit. Die Holzwand hier, nicht verleimt,
sondern mit Holzdübeln zusammengesteckt. Die deckenhohen Türen von alten
Messeständen, darauf prangt noch die Aufschrift „Meeting Room 1“. War
anfangs komisch, sagt Bothmann, aber irgendwie habe es auch Charme. Die
Treppenstufen aus den ehemaligen Metallunterbauten von Fenstern. Der
Teppich aus recycelten Fischernetzen. Der Backofen, ein Ausstellungsstück,
ist vorgestern leider explodiert. Produktfehler, man kümmert sich.
Das Recyclinghaus ist besonders, nicht nur für seine Bewohner:innen. „Es
ist wie ein Baby für die Handwerker, weil sie hier so gut wie keine
Kompromisse machen mussten“, erzählt er.
Die Idee für das Haus stammt von einem interdisziplinären Team der
Wohnungsbaufirma Gundlach, die im Raum Hannover fast 4.000 Wohnungen
verwaltet. Der Ansatz klingt einleuchtend: ein Haus, ausschließlich aus
gebrauchten, wiederverwertbaren Materialien aus der Region. Doch die
Umsetzung war alles andere als leicht, da es kaum Fachbetriebe gibt, die
entsprechend recyceln und einbauen. Gundlach hat viele Bauteile aus dem
eigenen Bestand zur Verfügung gestellt. Trotzdem dauerte das Projekt von
der Entwicklung bis zur Fertigstellung drei Jahre, länger als geplant.
Und es wurde entsprechend teuer. „Wir haben zum Teil bewusst
unwirtschaftliche Entscheidungen getroffen, zugunsten vom recycelten
Produkt“, erklärt Corinna Stubendorff, Projektverantwortliche bei der Firma
Gundlach. „Man hätte oft viel günstiger neue Materialien einbauen können,
aber das war eben nicht die Idee hinter dem Recyclinghaus.“ Sie wollten
vielmehr eine Debatte anstoßen, die zeigt: Eine gute Energiebilanz fängt
schon bei der Wahl der Baumaterialien an. „Baustoffe ernten“ nennt
Stubendorff das.
Tatsächlich ist Bauen eine der größten Umweltsünden weltweit. Über 80
Prozent des weltweiten Verbrauchs mineralischer Ressourcen hängt mit dem
Bausektor zusammen, während 58 Prozent des gesamten Abfallaufkommens von
eben diesem verursacht werden. Auch in Deutschland ist die Branche für über
50 Prozent des Abfalls verantwortlich, der jährlich zusammenkommt. Abfälle,
die sich größtenteils nicht recyceln lassen.
Das Problem fängt schon deutlich vor dem Bau oder Abriss eines Gebäudes an:
Graue Energie nennt sich das, was in den Abbau und die Beschaffung der
Rohstoffe sowie den Bau selbst geflossen ist, bevor überhaupt ein Mensch
ein neues Haus beziehen kann. Graue Energie, an die kaum jemand denkt, wenn
beispielsweise ein neues Passivhaus gebaut wird.
„40 bis 50 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen kommen aus dem Bausektor“,
sagt Nils Nolting. Das Thema sei brandaktuell, auch unter Architekt:innen,
„aber es wird noch dauern, bis die Leute in der Branche sagen: ‚Ich mach
nie wieder eine geile Sichtbetonwand‘.“ Nolting ist einer der Architekten
des Recyclinghauses am Kronsberg. Er findet, dass die Politik noch stärker
steuern müsste, zum Beispiel durch höhere Bepreisung von Mülldeponierung.
Dann wäre auch ein Projekt wie das Recyclinghaus im Vergleich
wirtschaftlicher. So war das nachhaltige Haus am Kronsberg teurer als ein
Neubau von der Stange. Das macht es zum Luxusprodukt – und somit eher nicht
zum Modell für zukünftiges Wohnen für viele.
„Am Ende stellt sich auch die Frage: Wer wohnt in dem Haus?“, sagt Sonja
Spital vom Berliner Stadtforschungsbüro RegioKontext. „Ökologische Fragen
sind wichtig, müssen aber immer zusammen mit sozialer Nachhaltigkeit
betrachtet werden.“ Denn in den Städten gibt es längst ein grundlegendes
Problem: Wer kann sich Wohnen überhaupt noch leisten? Spital sagt: „Ansätze
mit gemeinschaftlichen Grundrissen wie zum Beispiel beim Clusterwohnen
bieten zukunftsfähige Alternativen. Auch, was die Kosten betrifft.“
Co-Housing-Projekte seien oft als Vereine oder Genossenschaften konzipiert,
die auf solidarischen Prinzipien beruhen, sagt Spital. Das sei hilfreich,
aber leider trotzdem oft eine exklusive Sache, weil man deutlich mehr Zeit
und somit Geld investieren müsse, um ein Haus gemeinschaftlich zu planen.
Wohnraum ist ein Menschenrecht, das mittlerweile immer mehr Städter:innen
verwehrt bleibt. Wer günstigen Wohnraum schaffen muss, macht ökologische
Aspekte bisher kaum zur Priorität. Es rechnet sich einfach nicht. Eine
Antwort auf die Frage, wie und wo wir in Zukunft wohnen werden, lautet
deshalb im Sinne der Umwelt: auf gar keinen Fall in Neubauten.
So sieht das auch Nils Nolting. „40 bis 60 Prozent von der
Gesamtenergiebilanz eines Gebäudes fallen in der Regel auf die
Herstellung.“ Es sei ein Fehler, sich in ein neu erschlossenes Neubaugebiet
ein Passivhaus zu stellen. „Wenn man nur die ökologische Seite betrachtet,
würde ich auch sagen: Am besten ist, einfach gar nicht zu bauen.“ Man müsse
viel mehr mit vorhandenen Strukturen arbeiten.
Nolting sieht die Zukunft des Bauens in Synergieeffekten, ihn interessieren
ungenutzte Dachflächen, zum Beispiel auf Supermärkten. Und er beobachtet
ein langsames Umdenken in seiner Branche. „Für uns als Architekten ist es
ja völlig normal, mit Beschränkungen wie dem Baurecht umzugehen. Da könnten
ruhig noch Regeln dazukommen, die umweltfreundliche Bauweisen befördern.“
Die Wiederverwertung von Materialien ist eine von vielen Strategien, um die
Baubranche nachhaltiger zu machen. Nolting sagt aber auch: „Was wäre denn,
wenn ich hier nur den Massivholzbau hingestellt hätte? Ohne Fassade, keine
Dämmung, schlechtere Energiebilanz, aber dafür habe ich vielleicht 200.000
Euro gespart und weniger CO2 verbraucht.“ Einfaches Bauen könne auch ein
Schlüssel sein. Oder mit weniger Fläche auskommen. Nolting verweist auf den
sogenannten Rebound-Effekt: „Wenn man Häuser effizienter macht, dann aber
auf der doppelten Fläche wohnt, wird alles, was wir einsparen, durch diesen
Wunsch nach Komfort wieder aufgefressen.“
Nachhaltig Bauen ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Es braucht Architekt:innen,
die integrativ planen, Politiker:innen, die etwa für höhere Preise von
Rohstoffen sorgen, und Mieter:innen, die bewusstere Entscheidungen treffen
– und zum Beispiel auf weniger Fläche wohnen.
Auch Achim Bothmann denkt viel über die Umwelt nach, seit seinem Umzug noch
mehr. Er findet Greta Thunberg großartig. Zwei Jahre lebt er schon ohne
Plastik. Fast alles, was in der Küche gebraucht wird, kauft die Familie
unverpackt und lagert es in Schraubgläsern oder kleinen Schubladen aus
Holz. „Das ist zwar aufwendig, aber es ging ja damals auch im
Tante-Emma-Laden.“
1 Jan 2020
## AUTOREN
Lin Hierse
## TAGS
Zukunft
Wohnungsbau
Recycling
Ressourcenverbrauch
Lesestück Interview
Mietenwahnsinn
Wohnungspolitik
Mieten
## ARTIKEL ZUM THEMA
Forscherin über Klimaschutz im Bausektor: „Fehler der Gegenwart korrigieren�…
Lamia Messari-Becker ist Expertin für nachhaltiges Bauen. Sie erklärt,
worauf es dabei ankommt und wie sich das mit bezahlbarem Wohnen vereinen
lässt.
Studie zu bezahlbarem Wohnraum: Die Maßnahmen reichen nicht
Der Stadtsoziologe Andrej Holm hat herausgefunden: Neubau und
Mietpreisbremse allein werden die Wohnungsnot nicht lindern.
Alternative Wohnungspolitik: Ein Dorf gehört sich selbst
Hobrechtsfelde ist eine Siedlung vor den Toren Berlins. Das Dorf gehört
komplett seinen Bewohnern. Die Mieten sind mehr als erträglich. Wie geht
denn so was?
Streitgespräch dreier Wohnpolitiker: „Der Markt ist völlig aus dem Ruder“
Die Mietkrise gehört zu den brennendsten Themen der Zeit. Vor dem
Wohngipfel im Kanzleramt debattieren drei Politiker von SPD, Linken und
Grünen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.