# taz.de -- Streit um Flugreisen: Billigflieger sind ein Segen | |
> Es kann nicht nur um CO2 gehen, man muss auch die Klassenfrage stellen: | |
> Der moderne Wanderarbeiter fliegt. Auch zu Weihnachten nach Hause. | |
Bild: Reisender mit Rollkoffer in Brüssel: Reist er zum Vergnügen? Oder will … | |
Flug FR1607 ist an diesem Nachmittag Ende November voll besetzt. Dabei | |
nimmt die Boeing 737 eine Route abseits der großen Verkehrsströme. In gut | |
zwei Stunden geht es vom litauischen Kaunas, einer Stadt mit knapp 500.000 | |
Einwohnern, ins etwa 1.200 Kilometer entfernte Köln, auch nicht gerade als | |
Drehscheibe des internationalen Luftverkehrs bekannt. Doch der Flug von | |
Provinz zu Provinz rechnet sich für Ryanair – zweimal wöchentlich bedient | |
die Airline die Strecke, immer samstags und sonntags. Früher wurde sie nur | |
im Sommerhalbjahr angeboten, jetzt das ganze Jahr hindurch. | |
Am Ende dieses Fluges hat jeder Reisende knapp 0,25 Tonnen CO2 in die Luft | |
geblasen. Fast 18 Hin- und Rückflüge ergeben den Durchschnittswert von 8,8 | |
Tonnen, den in der EU lebende Menschen an dem Klimagas ausstoßen – pro Jahr | |
und alle Lebenslagen inklusive. Weniger als neun einfache Flüge Kaunas-Köln | |
und schon ist der empfohlene Wert erreicht, um die Erderwärmung | |
aufzuhalten. Also eigentlich ganz einfach: Der Flug an sich ist ein | |
[1][klimapolitisches Desaster], er gehört schnellstens abgeschafft und | |
verboten. Stimmt. Einerseits. | |
Andererseits leidet die Kampagne gegen Flugreisen im Allgemeinen und | |
Billigflüge im Besonderen an mehr als nur einem Schönheitsfehler: Sie lässt | |
soziale Aspekte außer Acht. Sie tut so, als seien Flugzeuge ausschließlich | |
von ignoranten Touristen oder von wohlhabenden Geschäftsmenschen mit | |
Rollköfferchen belegt, als seien die Reisen also zugunsten des Klimas | |
leicht verzichtbar. Doch das stimmt nicht. Jedenfalls nicht immer. | |
In Litauen leben derzeit knapp drei Millionen Menschen. Ende der 1990er | |
Jahre waren es einmal fast vier Millionen, doch seitdem hat das kleine Land | |
einen Exodus an der eigenen Bevölkerung erlebt. Friemelt man Zahlen aus dem | |
Internet zusammen, wohnen geschätzt 500.000 Litauerinnen und Litauer im | |
EU-Ausland – genaue Zahlen kennt niemand, nicht einmal die litauische | |
Botschaft. Viele sind gen Westen gezogen, weil es dort Arbeit gab, die | |
außerdem besser bezahlt wurde, mit großer Mehrheit junge Menschen zwischen | |
20 und 35. Geblieben sind die Älteren, die Großmütter und Großväter, deren | |
Enkel heute in Irland, Großbritannien oder den Niederlanden leben und | |
arbeiten. | |
Und Litauen ist nur ein besonders drastisches Beispiel. Ähnlich sieht es in | |
Rumänien aus, wo jeder Fünfte das Land in Richtung Westen verlassen hat. | |
Etwa 1,12 Millionen Polinnen und Polen sind in den letzten 15 Jahren ins | |
EU-Ausland gezogen, rund drei Prozent der Bevölkerung. Im Jahr 2017 | |
verließen rund 1,3 Millionen Menschen ihre Heimat in einem Mitgliedstaat | |
der Europäischen Union und ließen sich in einem anderen EU-Land nieder. Sie | |
taten dies vermutlich nicht, um mal eben die Berliner Clubszene zu erleben | |
oder den Eiffelturm zu besichtigen. | |
Viele dieser Menschen sind mit ihrer ursprünglichen Heimat verbunden | |
geblieben. Sie sehnen sich nach ihren Verwandten. Die Großmütter in Kaunas | |
freuen sich auf ihre Enkelkinder, der Onkel in Vilnius fiebert dem Besuch | |
seines Neffen entgegen. Und Besuche sind möglich, sogar ganz leicht, in | |
kurzer Zeit und nicht zu astronomisch hohen Preisen. Dank der | |
Billigflieger. An Bord des Flugs FR1607 von Kaunas nach Köln sind nur | |
wenige Touristen, manche der Durchsagen während der Reise werden nur auf | |
Litauisch gemacht. Die Fluggäste sind unterwegs vom Heimatbesuch zurück zu | |
ihren Wohn- und Arbeitsorten. Viele von ihnen reisen von Köln weiter in die | |
Niederlande. | |
Ich finde: Diese Menschen haben ein Recht auf Heimatbesuche, auch einige | |
Male im Jahr. Für sie sind die Billigflieger ein Segen, Lufthansa oder | |
Austrian wären viel zu kostspielig, da muss man schon mal mit dem | |
siebenfachen Preis eines Ryanair-Tickets rechnen. Fliegen hat eben auch | |
eine soziale Komponente, die in der aktuellen Diskussion um | |
CO2-Einsparungen berücksichtigt werden muss. | |
Und komme mir jetzt keiner mit der Bahn. Natürlich ist es leicht – und | |
richtig! –, diese Alternative zu empfehlen, wenn es um Strecken wie von | |
Berlin nach München, von Frankfurt nach Hamburg oder von Köln nach Paris | |
geht, die der ICE innerhalb weniger Stunden überbrückt. Natürlich kann es | |
ein Vergnügen sein, im Speisewagen sitzend durch Europa zu reisen – wenn | |
man Zeit hat, Geld und die nötigen Urlaubstage. Von Kaunas in Richtung | |
Westen ist der Bahnverkehr aber praktisch eingestellt. Alles, was es gibt, | |
ist ein Bummelzug, der jeden Samstag in Richtung des polnischen Bialystok | |
unterwegs ist und fast einen ganzen Tag dazu benötigt. Und was ist mit den | |
in Birmingham lebenden Menschen, die ihre Verwandten im rumänischen | |
Konstante besuchen möchten? Sollen die die 3.000 Kilometer nur noch mit dem | |
Flixbus zurücklegen dürfen? | |
## Nicht nur gebildete Westeuropäer | |
Die Debatte um Billigflüge ist bequem für all diejenigen, die sie führen: | |
sesshafte, gut gebildete Westeuropäer, denen es nicht im Traum einfiele, | |
für einen Job im Supermarkt oder auf dem Bau nach Dublin oder Glasgow | |
umzuziehen. Sie ignoriert dabei aber diejenigen, denen dieser Personenkreis | |
seinen relativen Wohlstand auch zu verdanken hat: die modernen | |
Wanderarbeiter des 21. Jahrhunderts, die froh darüber sind, dass ihnen im | |
europäischen Ausland eine Chance geboten wird. Die Debatte um Billigflieger | |
muss also auch die Klassenfrage stellen. | |
Nein, Fliegen ist kein Menschenrecht. Aber Menschen sollten ihren Lieben in | |
Europa einen Besuch abstatten können, ohne dafür gleich ein halbes | |
Monatsgehalt hinlegen zu müssen. Für sie sind die Billigflieger ein Glück. | |
Ihnen dieses Glück umstands- und alternativlos nehmen zu wollen, | |
bescheinigt denen, die diese Forderung aufstellen, vor allem eines: | |
Ignoranz. | |
21 Dec 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Miese-Bilanz-der-G20-beim-Klimaschutz/!5639902 | |
## AUTOREN | |
Klaus Hillenbrand | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Arbeitsmigration | |
Billigflieger | |
Annalena Baerbock | |
Deutsche Bahn | |
Kerosinsteuer | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Billigflüge und Klimaschutz: Das 29-Euro-Paradoxon | |
Die Aufregung der CDU über das angebliche Billigflugverbot zeigt: Der | |
Paradigmenwechsel in der Klimapolitik ist noch nicht bei allen angekommen. | |
Ini-Sprecher Michael Jung über Nachtzüge: „Viele Flüge sind überflüssig�… | |
Michael Jung von der Initiative Prellbock setzt sich dafür ein, dass der | |
Bahnhof Altona bleibt, wo er ist – auch weil er sich für Nachtzüge eignet. | |
Klimaexperte über Billigflüge: „Eine Kerosinsteuer wäre sinniger“ | |
Alexander Dobrindt von der CSU will Billig-Flugtickets mit einer | |
Strafsteuer belegen. Klimaexperte Martin Cames vom Ökoinstitut hat | |
Bedenken. | |
Schlechtes Gewissen für den Klimaschutz: Mehr Flugscham, bitte! | |
Eine Kerosinsteuer ist in weiter Ferne, auch bis zur Besteuerung von CO2 | |
kann es noch eine Weile dauern. Wenn nicht Flugscham, was denn sonst? |