# taz.de -- Wohnungen für Mitarbeiter: Wenn der Chef baut | |
> Werkswohnungen wie in Berlin-Siemensstadt sind Ausdruck fürsorglicher und | |
> kalkulierender Unternehmer. Die taz will an diese Geschichte anschließen. | |
Bild: Schön hier: die Berliner Siemensstadt | |
Es war sein bisher größter Coup als Wissenschaftssenator. Im Oktober 2018 | |
hatte der Siemens-Konzern angekündigt, 600 Millionen Euro in die Berliner | |
Siemensstadt investieren zu wollen, und Michael Müller, Sozialdemokrat, | |
Wissenschaftssenator und Regierender Bürgermeister, der Siemens den Weg | |
geebnet hatte, strahlte. In Spandau sollen neue Büros und | |
Forschungseinrichtungen entstehen, Start-ups sollen sich ansiedeln, | |
Wohnungen gebaut werden. So soll bis 2030 auf einer Fläche von einem | |
Quadratkilometer ein komplett neues Stadtquartier entstehen. Müller | |
betonte, dieses Projekt sei ihm „persönlich sehr wichtig“. Es sei von | |
großer Bedeutung „für die Weiterentwicklung des Wirtschafts- und | |
Wissenschaftsstandortes Berlin“. | |
Eine Siemensstadt 2.0 soll da also in Berlin-Spandau kommen. Auch die erste | |
Siemensstadt war für den Wirtschaftsstandort Berlin eine Zäsur, aber auch | |
für die Stadt und ihren Wohnungsmarkt. Um seine verschiedenen Standorte zu | |
vereinen, wurde um die Wende zum 20. Jahrhundert auf den Nonnenwiesen in | |
Spandau ein neues Werk von Siemens & Halske errichtet. Gleichzeitig begann | |
der Konzern mit dem Bau von Werkssiedlungen, für die namhafte Architekten | |
wie Hans C. Hertlein gewonnen wurden. Arbeiten und Wohnen unter einem | |
Firmendach: 1914 bekam dieses Ensemble aus Werk und Mietswohnungen den | |
Namen Siemensstadt. Die gleichnamige Großsiedlung ist heute Weltkulturerbe. | |
Es könnte sein größter Coup als Bauherr sein. Nachdem die taz im November | |
2018 ihr neues Gebäude in der Friedrichstraße 21 bezogen hat, will | |
Karl-Heinz („Kalle“) Ruch, nennen wir ihn einfach mal den Paten dieser | |
Zeitung, auch als Unternehmer mit sozialer Verantwortung in die | |
Geschichtsbücher eingehen. Nach dem Vorbild von Siemens, allerdings eine | |
Nummer kleiner, sollen auf dem freien Grundstück neben der | |
taz-Genossenschaftswohnungen entstehen. Mehrfach hat der Bauherr in spe | |
dem Autor dieser Zeilen diese Idee erläutert. Dass sie auf den ersten Blick | |
utopisch erscheinen mag, muss kein Argument gegen ihre Realisierung sein. | |
Auch die Utopie einer taz-Genossenschaft, durchgesetzt mit Hilfe von Olaf | |
Scholz gegen die Mehrheit der Redaktion, wurde 1992 Wirklichkeit. Dass ein | |
anderes Vorhaben, der Bau eines „taz-towers“ neben den beiden taz-Gebäuden | |
in der Kochstraße (jetzt Rudi-Dutschke-Straße), scheiterte, muss nichts | |
bedeuten. Damals stellte sich der Bezirk quer. Heute ziehen taz, Bezirk und | |
das Land Berlin an einem Strang. Gut möglich, dass die taz-Genossenschaft | |
nach dem Grundstück in der Friedrichstraße 21 auch das leer stehende | |
Nachbargrundstück bekommt. Derzeit wird da noch urban gegärtnert. | |
## Ruhrgebiet und Schlesien als Vorbild | |
Was aber wäre die Botschaft eines genossenschaftlichen Wohnbaus neben einer | |
genossenschaftlichen Zeitung? Um diese Frage zu beantworten, reicht es | |
nicht, nur auf die Siemensstadt zu verweisen, man muss etwas weiter in die | |
Geschichte des Städtebaus zurückblicken und darf dabei gern auch über den | |
Berliner Tellerrand hinausschauen. | |
Die ersten Werkssiedlungen in Deutschland entstanden in Bergbauregionen. | |
Allerdings war die erste dieser Zechenkolonien, die 1844 begonnene „Kolonie | |
Eisenheim“ der Gutehoffnungshütte Oberhausen, nicht für Arbeiter gebaut | |
worden, sondern für Vorarbeiter und Meister. Heute ist die nahe dem | |
Kulturzentrum Gasometer gelegene Siedlung ein Kleinod im ansonsten eher | |
unwirtlichen Oberhausen. | |
Ein Beispiel für eine Siedlung der Bergleute findet sich in Nikiszowiec, | |
ehemals Nikischschacht. Die Siedlung aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg | |
ist mittlerweile saniert, die roten Ziegelfassaden glänzen in der Sonne, | |
vor den Cafés schieben Männer Kinderwagen vor sich her und zeigen, dass es | |
im oberschlesischen Revier ein Leben nach der Kohle gibt. Nickischschacht, | |
heute ein Stadtteil von Katowice, hat den Sprung in die Zukunft geschafft. | |
## Räumliche Trennung | |
Stadtbildprägende Quartiere wie in der Siemensstadt sind allerdings eher | |
die Ausnahme gewesen. Im Zuge der Industrialisierung ging der Trend nicht | |
zum integrierten Quartier, sondern zur funktionalen und räumlichen | |
Trennung. Nicht nur Katowice ist dafür ein Beispiel, sondern auch Berlin. | |
Borsig etwa zog Ende des 19. Jahrhunderts von der Chausseestraße nach | |
Tegel, der Name Borsigwerke der U-Bahn-Linie 6 zeugt noch heute davon, dass | |
die Wege von der Arbeit bis zur Wohnung weiter wurden. | |
Allerdings gab es auch die Gegenbewegung. Łódź zum Beispiel wurde im 19. | |
Jahrhundert zum Zentrum der Textilproduktion, ein „Manchester des Ostens“. | |
Typisch für die Stadt, die erst mit der Industrialisierung aus dem Boden | |
gestampft wurde, ist das unmittelbar räumliche Nebeneinander von Fabriken, | |
Fabrikantenvillen und Werkswohnungen. Eine ähnliche Typologie der | |
integrierten Industriestadt gibt es in Deutschland nur in Forst in der | |
Lausitz, auch das ein Zentrum der damaligen Textilfertigung. | |
## Weimarer Siedlungsbau | |
Demgegenüber fand der Siedlungsbau nach dem Ersten Weltkrieg vorwiegend auf | |
den grünen Wiesen statt. BauherrInnen waren nicht mehr Unternehmer, sondern | |
die Kommunen. Das Baugeschehen hatte sich von der Wirtschaft entkoppelt, | |
auch deshalb, weil nach dem Krieg die Wohnungsnot so groß geworden war, | |
dass Staat und Kommunen mit öffentlichen Geldern den Bau bezahlbarer | |
Wohnungen ankurbeln mussten. | |
Es war der Beginn des kommunalen und sozialen Wohnungsbaus in Deutschland. | |
Von 1924 bis 1931 wurden allein in Berlin fast 150.000 Wohnungen mit | |
öffentlichen Mitteln gebaut – das entsprach drei Viertel des damaligen | |
Baugeschehens. Bauträger waren Bauhütten und Genossenschaften, aus denen | |
später die Vorläufer der heutigen Wohnungsbaugesellschaften wurden. Und | |
auch des sozialen Wohnungsbaus, der in Westberliner Zeiten zum | |
sozialdemokratischen Milliardengrab wurde. | |
An die Neue Heimat denkt Kalle Ruch aber sicher nicht, wenn er für die | |
taz-Genossinnen und -Genossen nun auch noch ein Wohnhaus errichten will. | |
Eher an die Anfänge in der Geschichte des Werkswohnungsbaus. Denn Kalle | |
Ruch kann nicht nur rechnen, er hat auch ein soziales Gewissen. Vielleicht | |
sind die taz-Wohnungen ja eine Entschädigung für die Gehälter, die ohne | |
Erbe keine großen Sprünge mehr auf dem Berliner Wohnungsmarkt erlauben. | |
14 Dec 2019 | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
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