| # taz.de -- Völkermord an Sinti und Roma: Der ignorierte Gedenktag | |
| > Dank eines Bremer Vorschlags erinnert Deutschland am 16. Dezember an die | |
| > Ermordung der Sinti und Roma. Theoretisch. Praktisch passiert fast | |
| > nichts. | |
| Bild: Im ehemaligen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau wurden tausende Sinti … | |
| Bremen taz | Seit 25 Jahren ist der 16. Dezember in Deutschland nationaler | |
| Gedenktag der Sinti und Roma auf Bremer Initiative hin: Erinnert wird an | |
| den Porajmos, so heißt der Völkermord in ihrer Sprache, Romanes: das | |
| Verschlingen. Es ist bis heute nicht erforscht, wie viele Menschen ihm zum | |
| Opfer fielen, die Rede ist von mehreren 100.000 bei einer Gesamtgruppe von | |
| weniger als einer Million. Die Ampelkoalition und der damals amtierende | |
| Bürgermeister Bremens, Klaus Wedemeier (SPD), hatten zusammen mit dem | |
| Zentralrat Deutscher Sinti und Roma 1993 einen Entwurf zur Einführung des | |
| Gedenktages in den Bundesrat eingebracht. | |
| Die Idee dazu hatte Helmut Hafner gehabt. Seit 1983 war Hafner in der | |
| Senatskanzlei zuständig für Kirche, Religionen, politische Philosophie und | |
| zivilgesellschaftliche Projekte. Studiert hatte er in Saarbrücken | |
| Philosophie, Geschichte, Psychologie und Theologie und promovierte in | |
| Philosophie und Theologie. Seit seinem Amtsantritt ’83 brachte er viele | |
| Projekte auf den Weg, darunter auch die „Nacht der Jugend“, die seit 1998 | |
| jährlich am 9. November, zum Gedenken an die Opfer der Reichspogromnacht, | |
| im Bremer Rathaus stattfindet. Und eben den Porajmos-Gedenktag. | |
| Das Datum ist einschlägig: Am 16. Dezember 1942 unterschreibt | |
| SS-Reichsführer Heinrich Himmler den sogenannten „Auschwitz-Erlass“. Damit | |
| beginnt die letzte Phase des Völkermords. Alle innerhalb des Deutschen | |
| Reichs lebenden Sinti und Roma sollen ab dem Zeitpunkt vernichtet werden. | |
| Im März des darauffolgenden Jahres werden am Bremer Schlachthof 275 Sinti | |
| und Roma aus Bremen, Bremerhaven und dem Weser-Ems-Gebiet zusammengetrieben | |
| und dann in drei Transporten in das „Zigeunerfamilienlager“ in | |
| Auschwitz-Birkenau B IIe deportiert. Die meisten sterben dort. | |
| „Der Begriff ‚Zigeuner‘ ist für mich ein heiliges Wort“, sagt Helmut | |
| Hafner. Als Kind sei er einmal mit seinem Bruder an den See gegangen, um zu | |
| schwimmen. Seine Mutter hatte ihn gewarnt, dort seien „Zigeuner“, die | |
| würden Kinder klauen. Der kleine Helmut fiel an diesem Tag in den See und | |
| wäre fast ertrunken. „Ein Zigeuner hat mir das Leben gerettet“, sagt er. | |
| „Seitdem war Zigeuner ein heiliges Wort in unserer Familie.“ | |
| ## Systematisch geleugnet | |
| Seit 1995 erinnert eine Gedenktafel am heutigen Kulturzentrum Schlachthof | |
| an den Porajmos, den Völkermord an den europäischen Sinti und Roma zur Zeit | |
| des Nationalsozialismus. Die Aufarbeitung des Porajmos kam nach dem Krieg | |
| allerdings nur langsam in Gang. Zunächst wurde die systematische | |
| Vernichtung der Sinti und Roma geleugnet. | |
| Im Januar 1956 entschied der Bundesgerichtshof dann, Sinti und Roma seien | |
| bis 1943 rechtswidrig, unmenschlich und grausam behandelt worden. Eine | |
| Entschädigung gab es trotzdem nicht. Dafür fehlte ein wichtiges | |
| Eingeständnis. Der Bundesgerichtshof vertrat damals die obszöne Meinung, | |
| die Morde an den Angehörigen der Minderheit wären „nicht rassenideologisch | |
| motiviert“ gewesen. Erst 1982 kam es zur offiziellen Anerkennung der | |
| Verfolgung von Sinti und Roma als Völkermord. | |
| Während seiner Arbeit im Rathaus stellte Hafner fest, dass es für die | |
| Verbrechen, die an den Sinti und Roma begangen wurden, keinen eigenen | |
| Gedenktag gab. Der 27. Januar sei zwar ein Tag, an dem aller Opfer des | |
| Nationalsozialismus gedacht werden sollte, aber Hafner wollte sich dafür | |
| einsetzen, dass die Sinti und Roma auch einen eigenen Gedenktag bekamen. | |
| Gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, | |
| Romani Rose, stellte er seine Ideen dem damaligen Bürgermeister Klaus | |
| Wedemeier (SPD) vor. | |
| „Er war begeistert“, sagt Hafner. Klaus Wedemeier hatte vom 1. November | |
| 1993 bis zum 31. Oktober 1994 außerdem das Amt des Bundesratspräsidenten | |
| inne: die Chance, den Gedenktag durchzusetzen. „Widerstand gegen unsere | |
| Idee kam vor allem von Nordrhein-Westfalen, also besonders von Wolfgang | |
| Clement“, sagt Hafner. Clement, damals Chef der Staatskanzlei des Landes | |
| Nordrhein-Westfalen, sei der Ansicht gewesen, man solle den Sinti und Roma | |
| die Organisation von Gedenkveranstaltungen selbst überlassen, erzählt | |
| Hafner. | |
| Mit Unterstützung des damaligen stellvertretenden Vorsitzenden der | |
| CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Heiner Geissler, sei es aber dann gelungen, | |
| auch die neuen Bundesländer für die Idee zu gewinnen. Mit großer Mehrheit | |
| wurde der Vorschlag zum Gedenktag für Sinti und Roma 1993 beschlossen. | |
| Die sind Opfer zweiter Klasse geblieben: Antizigane Vorurteile sind | |
| deutlich weiter verbreitet als antisemitische, offizielle Veranstaltungen | |
| zum Porajmos fehlen. In Bremerhaven beteiligt sich wenigstens ein Stadtrat, | |
| aber in Bremen, das doch die Initiative einst ergriffen hatte, ist das | |
| Gedenken wieder ganz zur Privatsache geraten: kein Termin, keine | |
| Kranzniederlegung im Plan. „Es ist leider immer noch kein bekannter | |
| Gedenktag“, bestätigt Hafner. | |
| 16 Dec 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Mahé Crüsemann | |
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