# taz.de -- Experte über Russlands Rolle in der Welt: „Es geht um Geopolitik… | |
> Der russische Experte für Außenpolitik Fjodor Lukjanow über Moskaus Blick | |
> auf die Nato und die neue Weltordnung. | |
Bild: Auf Annäherungskurs: Wladimir Putin und Emmanuel Macron in Frankreich | |
taz: Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron macht sich vor dem Nato-Gipfel | |
in London für eine Verbesserung der Beziehungen zu Russland stark. Dazu war | |
er sogar bereit, den russischen Vorwurf aufzugreifen, Moskau sei nach 1990 | |
vom Westen gedemütigt worden. Paris scheint auch gewillt zu sein, alte | |
russische Interessenssphären wieder anzuerkennen. Triumphiert der Kreml | |
nun, Herr Lukjanow? | |
Fjodor Lukjanow: Wladimir Putin schätzt es in der Tat, dass Macron | |
versucht, die Auseinandersetzung mit Russland auf neue Gleise zu stellen, | |
und auch Fragen aufgreift, die vor einem Jahr noch nicht denkbar gewesen | |
wären. Putin begegnet dem französischen Präsidenten mit Wohlwollen. | |
Das klingt sehr verhalten. Wird Macrons Diagnose, die Nato sei „hirntod“, | |
in Moskau nicht als Sieg gewertet? | |
So klar und eindeutig ist das alles nicht. Der Kreml begegnet dem | |
französischen Präsidenten mit großer Sympathie. Auf der anderen Seite | |
stehen jedoch russische Kommentatoren und Experten aus dem | |
Außenministerium, die [1][Macrons „revolutionären“ Vorstoß] nüchterner | |
wahrnehmen. Nicht zuletzt agiert auch er in einem Rahmen, der lediglich | |
begrenzte Bewegungsfreiheit erlaubt. | |
Was meinen Sie damit? | |
Macron ist nicht de Gaulle und das heutige Frankreich nicht das von vor | |
einigen Jahrzehnten. Europa hat sich auch verändert. Selbst ein mächtiger | |
Politiker ist in diesem chaotischen Zustand nicht in der Lage, ein | |
umstrittenes Ergebnis einfach so durchzusetzen. Emmanuel Macron ist sehr | |
zielstrebig und ambitioniert, zugegeben. Doch es fehlt ihm noch etwas, um | |
an das Kaliber eines François Mitterand heranzureichen. | |
Macron geht kritisch mit der Nato um. Gleichzeitig liebäugelt er mit einer | |
von den USA abgekoppelten strategischen Beziehung, die sich Russland | |
zuneigen sollte. Das reicht nicht als Vorleistung für Unterstützung … | |
Moskau erwartet nicht viel von der Pariser Initiative, schon gar keinen | |
Durchbruch. | |
Grundsätzlich bleibt jedoch alles beim Alten. Auch die Beziehungen zur EU | |
sind ja schon seit mehr als einem Jahrzehnt eingetrübt. Ist eine Annäherung | |
in nächster Zeit ausgeschlossen? | |
Das alte Modell aus den 1990ern und 2000 Jahren gehört der Vergangenheit | |
an. Die EU und Russland befinden sich in einer schwierigen Phase der | |
inneren Transformation. 2024 steht das auch in Russland bevor. Wie soll | |
dieser Prozess gestaltet werden, in dem Putin schon nicht mehr dieselbe | |
Rolle einnimmt? Gleichzeitig ringt die EU um den inneren Zukunftskurs. Erst | |
wenn sich auf beiden Seiten Klarheit abzeichnet, können wieder gemeinsame | |
Planungen in Angriff genommen werden. Diese neuen Beziehungen werden sich | |
jedoch deutlich von denen in den 1990ern abheben. | |
Woran nimmt Russland im Rückblick Anstoß? | |
Die Idee der Partnerschaft bestand darin, dass wir uns gemeinsam auf | |
europäische Normen zubewegen. Dieser Prozess war jedoch nicht als ein | |
Ringen um Kompromisse gedacht. Die europäische Norm wurde übernommen, weil | |
sie von vornherein als überlegen galt. | |
Hat sich Russland diesem Näherungsverfahren damals nicht freiwillig | |
angeschlossen? Auch in der Hoffnung auf eine gesichertere Zukunft? | |
Doch, Russland hat dies Modell lange Zeit übernommen und akzeptiert. Nur | |
zeigte sich eben ein wesentlicher Nachteil: Neben Wirtschaft und Recht sind | |
auch nationale Interessen noch zu beachten, nicht zuletzt die Geopolitik. | |
Denn trotz des fundamentalen Umbaus der postsozialistischen Gesellschaft | |
hat sich an nationalen Interessen nichts geändert. | |
Können Sie das etwas konkreter sagen? | |
Je weiter sich Nato und EU auf Russland zubewegten, desto mehr fühlte sich | |
Moskau in seiner Bewegungsfreiheit herausgefordert. In der Annäherung von | |
EU und Nato sah Moskau kein neutrales System mehr. | |
Die Abkehr von gemeinsamen Zielen hatte ja auch schon früher stattgefunden. | |
Der Höhepunkt dieses Näherungsvorgangs entlud sich im [2][Konflikt um die | |
Ukraine]. Beide Seiten haben das unterschiedlich wahrgenommen. Jede Seite | |
verfolgte damals eigene Vorstellungen und war auch nicht ganz aufrichtig. | |
Russland empfand es als ein eklatantes Missverhältnis. | |
Die Entscheidung des EU- und Nato-Beitritts war von den Nachfolgestaaten | |
der Sowjetunion und des ehemaligen Verteidigungsbündnisses, des Warschauer | |
Pakts, bewusst getroffen worden. Im Rahmen des für alle gültigen | |
Völkerrechts. Zwischen den Beitritten zur Nato und dem Krieg in der Ukraine | |
vergingen mehrere Jahre. | |
Nun hat die Expansion Europas aber erst einmal ein Ende gefunden. | |
Welche Auswirkungen hat das auf eine neue Weltordnung? | |
Zu den USA kommt Eurasien dazu. Dort wird voraussichtlich China die | |
Führungsrolle übernehmen. Russland schließt sich dem an. Dennoch glaube ich | |
nicht, dass dies reibungslos verlaufen kann. Nicht zu übersehen ist, dass | |
die internationale Politik immer abhängiger von einzelnen Personen wird. | |
Putin, Trump, Johnson, Erdoğan oder Macron spielen eine größere Rolle als | |
Institutionen. | |
Für Russland war immer Souveränität die wichtigste und zentrale Kategorie. | |
Sie bleibt auch entscheidend, daran hat sich nichts geändert. Denn Moskau | |
hat nicht das Gefühl, China würde es in den nächsten Jahren bedrohen. Das | |
ist seltsam. Denn vor 15 Jahren sah es noch anders aus. China verfolgt | |
momentan andere Prioritäten. Trotz Wachstums entsteht kein | |
Bedrohungsgefühl. Für China ist Russland nur eine zusätzliche Stütze. | |
Außerdem wird Russland in den nächsten zwei Jahrzehnten China militärisch | |
noch überlegen sein. | |
Noch vor zehn Jahren lehnte auch die russische Elite China ab … | |
Damals setzte Russland noch auf Europa. China war der Gegenpol. Die | |
westlich zentrierte Welt verschwindet langsam. Seit 300 Jahren schauen wir | |
auf Europa durch dieses westliche Prisma. Das bedeutete nicht | |
freundschaftlicher Umgang mit dem Westen. Ob Annäherung oder Konfrontation, | |
der Westen war auf jeden Fall immer ein Referenzpunkt. Früher galt: Der | |
Westen ist wichtiger als der Osten. Das gehört der Vergangenheit an. | |
Viele im Westen halten Putin für einen Sieger. Ist Russland als | |
Ordnungsfaktor in den Nahen Osten zurückgekehrt? | |
Russland ist zum wichtigsten Staat im Nahen Osten geworden. Alle erwarten | |
etwas von Russland. Das liegt aber auch daran, dass die anderen Spieler | |
nicht wussten, was sie wollten. Die USA konnten sich nicht entscheiden, die | |
EU spielte keine Rolle. Am Ende übernehmen Türkei, Saudi-Arabien, Iran und | |
Israel die Aufgabe. Also regionale Mächte, Russland war unerwartet effektiv | |
in seinem Vorgehen. Moskau hat jedoch nicht den Ehrgeiz, die frühere Rolle | |
der UdSSR oder die USA in der Region zu ersetzen. Auch besteht keine | |
Notwendigkeit, die Region in eine Einflusssphäre zu verwandeln. | |
2 Dec 2019 | |
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[1] /Frankreichs-Praesident-und-die-EU/!5578200 | |
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## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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