# taz.de -- Binnenflüchtlingen aus der Ostukraine: Hoffen auf Frieden | |
> Am Montag wird beim Russland-Ukraine-Gipfel über die Ostukraine | |
> verhandelt. Der Krieg hat viele Menschen in die Flucht gezwungen, auch | |
> nach Rogosiv. | |
Bild: Früher Wohnheim für Näherinnen, heute Bleibe für Flüchtlinge aus der… | |
ROGOSIV taz | Der Taxifahrer schimpft. „Wenn ich gewusst hätte, dass ich | |
hier in einem so gottverlassenen Nest lande, hätte ich den Auftrag | |
abgelehnt. Von diesem Kaff zurück nach Kiew bekomme ich mit Sicherheit | |
keinen Fahrgast“, verabschiedet er sich von seinem Fahrgast und fährt | |
davon. | |
In der 3.000 Einwohner zählenden Ortschaft Rogosiv hat es geschneit. | |
Irgendwo kräht ein Hahn, die wenigen Fußgänger legen trotz der Kälte keine | |
Eile an den Tag. Am Ende der „Straße des Vaterlandes“, an der Hausnummer | |
2a, steht ein Werkszaun, dahinter eine kleine Nähfabrik und ein | |
zweistöckiges Wohnheim. | |
Auf dem Hof des Geländes steht Alexander Jakimenko, früher mal | |
Fallschirmjäger, jetzt Geschäftsmann, Kampfsporttrainer und Seele des | |
Wohnheims. Er stammt aus Kramatorsk im Osten des Landes. Heute wird die | |
Stadt von der Ukraine kontrolliert, doch 2014 war sie zeitweise auch in der | |
Hand der Separatisten. | |
Weil er in der ganzen Stadt als Patriot bekannt war, habe er Kramatorsk | |
verlassen müssen. Hinzu kam die völlige Zerstörung seines Geschäfts in der | |
Nähe der Ortschaft Majorsk. Zurück möchte er nicht. Denn dann würden sich | |
die 50 Menschen im Wohnheim, zur Hälfte Binnenflüchtlinge aus dem Donbass, | |
nicht mehr halten können, ist er sich sicher. | |
## Dann kam der Krieg | |
Da die meisten Arbeiterinnen der Nähfabrik in der Ortschaft wohnen, wurde | |
das zur Näherei gehörige Wohnheim lange nicht genutzt. In die Überlegungen | |
des Besitzers, ob er nicht etwas Sinnvolles mit diesem Heim machen könnte, | |
[1][platzte 2014 der Krieg in der Ostukraine], und eines Tages stand | |
Jakimenko mit Frau und Kind vor der Tür und bat um eine Bleibe. Doch | |
Jakimenko reichte es nicht, seine eigene Familie in Sicherheit gebracht zu | |
haben. Er lud weitere Binnenflüchtlinge aus dem Donbass nach Rogosiv. | |
Seit 2014 hat er über 1.500 Vertriebene im Heim an der Vaterlandsstraße | |
untergebracht. Vor drei Jahren nahm der Strom der Schutzsuchenden ab. Also | |
machten sich Jakimenko und seine Glaubensbrüder und -schwestern auf die | |
Suche nach einer neuen Aufgabe. | |
Gemeinsam mit anderen Mitgliedern seiner Gemeinschaft „Winning Church“, | |
einer konservativen, protestantischen Pfingstgemeinde, begannen sie, auf | |
Bahnhöfen unter den Obdachlosen zu missionieren. 25 Obdachlosen geben sie | |
derzeit neben den zwei Dutzend Binnenflüchtlingen eine Bleibe im Heim der | |
Textilfabrik. | |
Doch eines Morgens Ende 2018 umzingelten mehrere Autos ohne Nummernschilder | |
das Gelände. Maskierte Männer stürmten das Wohnheim und forderten die | |
Bewohner – zum Großteil vom Krieg Traumatisierte – zum Verlassen des | |
Gebäudes innerhalb von fünf Tagen auf. | |
## Konflikte mit dem Wachpersonal | |
Hintergrund dieses Überfalls war ein Rechtsstreit zwischen dem Besitzer des | |
Wohnheims und der russischen Alfa-Bank. Da der Besitzer des Wohnheims einen | |
Kredit nicht zurückzahlen konnte, beanspruchte nun die Bank das Gelände für | |
sich. | |
Doch Jakimenko, die Flüchtlinge und die Obdachlosen weigerten sich, der | |
Forderung nachzukommen. Sie gingen an die Öffentlichkeit. Nach intensiver | |
Berichterstattung der ukrainischen Medien können die Flüchtlinge und | |
Obdachlosen zumindest bis zum Ende des Rechtsstreits zwischen der Alfa-Bank | |
und dem Besitzer der Näherei bleiben. | |
Gleichzeitig hat ein Gericht der Alfa-Bank erlaubt, das Gelände von einer | |
privaten Wachgesellschaft schützen zu lassen. Die würden versuchen, die | |
Bewohner mürbe zu machen, sagt Jakimenko der taz. Dabei komme es immer | |
wieder zu unschönen Szenen, etwa wenn die Wachleute Bewohner wieder einmal | |
auffordern, doch endlich das Terrain zu verlassen. | |
Auch die Bewohner des Heims haben die Vorbereitungen für das Treffen | |
zwischen dem ukrainischen Regierungschef Wolodimir Selenski und dem | |
russischen Präsidenten Wladimir Putin in Paris ganz genau beobachtet. | |
Olga Gritsaj aus Luhansk lebt mit ihrem Kind und ihrem Mann seit fast fünf | |
Jahren in Rogosiv. Sie setzt große Hoffnungen in das Pariser Treffen. „Und | |
wenn die sich in Paris zumindest darauf einigen, dass nicht mehr geschossen | |
wird, dann geht es meinen Eltern in Luhansk besser“, sagt sie. Sie selbst | |
will nicht zurückkehren, auch nicht bei einem stabilen Waffenstillstand. | |
„Dort ist doch alles kaputt. Und Arbeit gibt es auch keine.“ Vor allem | |
wegen ihres Kindes will sie in der Nähe von Kiew bleiben. | |
## Viele wollen nicht zurück | |
Auch für Sofia Tscherewan, die aus dem Gebiet Kramatorsk kommt und nun mit | |
ihrem Kind in Rogosiv lebt, gibt es kein Zurück. „Auch dann nicht, wenn | |
nicht mehr geschossen wird.“ [2][Dort sei die Lage einfach viel | |
angespannter als hier], nicht nur in politischer Hinsicht, erklärt sie. | |
„Ich will, dass mein Kind hier groß wird.“ Sie setzt auf Paris: „Friede … | |
doch das Allerwichtigste.“ | |
Der Obdachlose Wjatscheslaw setzt wenig Hoffnung in das Treffen, bei dem | |
die Regierungschefs von Deutschland und Frankreich vermitteln. „Auf euch im | |
Westen ist doch kein Verlass mehr“, schimpft er. „Ihr habt uns unsere | |
Atomraketen weggenommen und versprochen, dass ihr dafür die | |
Unverletzlichkeit unserer Grenzen garantiert. Ihr habt euch von den Russen | |
um den Finger wickeln lassen, und das alles nur, weil euch das russische | |
Gas wichtiger ist als die ukrainischen Grenzen“. | |
Fernando ist aus Guinea-Bissau, hat zwanzig Jahre in der Ukraine gelebt und | |
spricht akzentfrei Russisch. Als Obdachloser ist er indirekt vom Krieg | |
betroffen. Lange Zeit hatte er in Donezk gelebt und war kurz vor | |
Kriegsausbruch nach Kiew gezogen, wo er mit einer russischen Staatsbürgerin | |
zusammengelebt hatte. Doch wenige Monate nach Kriegsbeginn ist sie wieder | |
nach Russland gezogen, wo sie jetzt mit einem anderen Mann lebt. | |
Fernando wiederum hat es nicht geschafft, eine neue Wohnung zu finden, | |
wurde obdachlos und hat dabei auch seine Papiere verloren. Da Guinea-Bissau | |
in Kiew keine Botschaft hat, musste er früher seine Passangelegenheiten in | |
Moskau regeln. Doch heute kann er wegen des Konflikts nicht mehr dorthin, | |
weil er keine Papiere hat. Und so lebt er in Rogosiv, träumt von gültigen | |
Reisedokumenten und einem Ticket nach Guinea-Bissau, wo sein Sohn lebt. | |
9 Dec 2019 | |
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## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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