| # taz.de -- Filmfestival Braunschweig: DDR im Programm | |
| > Vor 30 Jahren fand in Braunschweig während des Mauerfalls ein Filmfest | |
| > statt. Das diesjährige Filmfestival erinnert daran mit einer Filmreihe. | |
| Bild: Einfühlsame Dokumentation aus der DDR-Endzeit: Zwei Punkerinnen in „Wi… | |
| Bremen taz | Der 10. November 1989 war ein sonniger Tag. So erinnert sich | |
| Alfred Tews, der damals erst ein paar Jahre für das Bremer Kommunalkino | |
| arbeitete,und an diesem Freitag frühmorgens mit zwei Freunden nach | |
| Braunschweig fuhr, um das dortige Filmfest zu besuchen. Sie trauten ihren | |
| Augen nicht, als ihnen 20 Kilometer nach Hannover „massenhaft Trabbis, die | |
| in Kolonne fuhren“ entgegen kamen. | |
| Auf den Brücken standen Menschen und winkten, und als sie dann in | |
| Braunschweig ankamen, waren auch die Straßen der ersten größeren | |
| westdeutschen Stadt nach dem damaligen Grenzübergang Helmstedt voller | |
| Trabbis und BürgerInnen der DDR. „Sie riefen ‚Wir sind frei‘ und ‚Wir … | |
| ein Volk‘. Das war einer der größten Momente meines Lebens“, erzählt Tew… | |
| In Braunschweig traf er dann den Defa-Regisseur Roland Gräf, von dem eine | |
| Werkschau auf dem Filmfest lief: „Er war sehr bewegt und meinte, er hätte | |
| nie gedacht, dass er das noch erleben würde. Und er sagte, dass er selber | |
| jetzt seine eigenen Filme mit anderen Augen sehen müsse.“ | |
| Zwei Monate früher hatte Tews auf den von ihm organisierten „Tagen des | |
| unabhängigen Films“ in Bremen die DDR-Filmemacherin Helke Misselwitz zu | |
| Gast, die ihren Film „Winter adé“ vorstellte. Dessen Filmtitel schien | |
| damals visionär die Entwicklung in der DDR auf den Punkt zu bringen, aber | |
| Tews erzählt, dass Misselwitz selber so kurz vor der Maueröffnung eher | |
| skeptisch war und nur kleine Schritte der Veränderung für möglich hielt: | |
| „Sie sagte: ‚Vielleicht nähern sich ja die beiden Staaten einander an und | |
| akzeptieren sich mehr‘ – aber sie rechnete nie damit, dass sich alles dann | |
| so schnell entwickeln würde.“ So wurde ein kleines, damals gerade drei Jahr | |
| altes Filmfest zu einem Schauplatz der Weltgeschichte. | |
| Das 33. Internationale Filmfestival Braunschweig hat zu diesem historischen | |
| Ereignis ein mehrteiliges Projekt organisiert. Von dem damaligen | |
| Festivalgast, dem 2017 verstorbenen Roland Gräf, ist neben „Bankett für | |
| Archilles“ aus dem Jahr 1975 der Spielfilm „Märkische Forschungen“ im | |
| Programm. Von einer bevorstehenden Wende ist in dieser Adaption des | |
| gleichnamigen Romans von Günter de Bruyn aus dem Jahr 1981 nichts zu | |
| spüren. | |
| Erzählt wird darin stattdessen von den scheinbar festgefügten Verhältnissen | |
| im akademischen Betrieb der DDR. Der Literaturprofessor Menzel trifft bei | |
| seinen Forschungen zu dem vergessenen märkischen Dichter Max von Schwedenow | |
| auf den Landlehrer und Freizeitforscher Pötsch. Dieser versucht ebenfalls | |
| etwas über das Leben des Dichters aus dem 19. Jahrhundert herauszufinden, | |
| und Menzel unterstützt ihn dabei zuerst herablassend wohlwollend, bis sich | |
| herausstellt, dass Pötsch eine andere Lehrmeinung zum Thema hat, durch | |
| deren Veröffentlichung die Forschungsergebnisse von Menzel widerlegt werden | |
| könnten. Nun wird der ganze akademische Apparat gegen den Hobbyforscher | |
| eingesetzt, und dieser wird immer mehr zu einer Kohlhaas-Figur, die am | |
| Kampf gegen das System irre wird. | |
| 1981 war diese Kritik an Autoritäten und politischen Manipulationen in | |
| einem Defa-Film sicher gewagt, aber die Anspielungen, Überspitzungen und | |
| Nuancen, mit denen Gräf hier arbeitete, sind für ein heutiges Publikum kaum | |
| noch erkennbar. Als detailliert gezeichnetes Sittengemälde eines | |
| bildungsbürgerlichen Milieus in der DDR ist der Film dennoch sehenswert. | |
| Misslewitz’ Dokumentarfilm „Winter adé“ lief in der Zeit der Wende | |
| erfolgreich in westdeutschen Kinos, weil er das Lebensgefühl der Menschen | |
| in der Endzeit der DDR authentisch und intensiv vermittelte. Die | |
| Filmemacherin hatte eine ebenso einfache wie einleuchtende Grundidee: Sie | |
| fuhr einen Winter lang mit der Bahn durch die DDR und ließ sich von Frauen | |
| und Mädchen, die sie unterwegs traf, von deren Lebenserfahrungen und | |
| Hoffnungen erzählen. | |
| Die damals 40-Jährige begann die Reise in ihrer Heimatstadt Zwickau und | |
| näherte sich im Laufe des Films dem Sehnsuchtsort Ostsee. Zwischen den | |
| Gesprächen schweift der Blick der Kamera immer wieder über die an den Zügen | |
| vorbeigleitenden Landschaften, und dadurch vermittelt Misselwitz nebenbei | |
| auch ein Gefühl für die Freuden einer langen, befreienden Reise. | |
| Sie spricht mit zwei Punkerinnen, einer Berliner U-Bahnfahrerin, vier | |
| jungen Frauen im fahrenden Zug und einem Ehepaar, das seinen 60. | |
| Hochzeitstag feiert. Misselwitz hat ein Talent dafür, in den Menschen | |
| soviel Vertrauen zu wecken, dass sie sehr offen und tief von ihrem Leben | |
| erzählen. Und auf dieser Ebene ist „Winter adé“ viel mehr als ein | |
| historisches Dokument. | |
| Die anderen Filme im Programm wurden nach 1989 produziert, darunter die | |
| Adaption eines Bühnenprogramms der beiden Kabarettisten Steffen Mensching | |
| und Hans-Eckardt Wenzel mit dem programmatischen Titel „Letztes aus der Da | |
| Da eR“ aus dem Jahr 1990 und Andreas Dresens filmische Liebeserklärung an | |
| den liederschreibenden Baggerfahrer „Gundermann“ aus dem Jahr 2018. | |
| Am 24. November gibt es im Lot-Theater ein Abschlussgespräch mit Helke | |
| Misselwitz, dem Regisseur Andreas Kleinert und dem Vorsitzenden der | |
| DEFA-Stiftung Ralf Schenk. Und im Braunschweiger Landesmuseum wird unter | |
| dem Titel „My Last Picture Show“ eine Ausstellung mit Fotos von Roland Gräf | |
| präsentiert. Am 10. November 1989 hatte er in Braunschweig wohl keine | |
| Kamera dabei. | |
| 14 Nov 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Wilfried Hippen | |
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