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# taz.de -- Justizskandal in Norwegen: Jahrelang falsch gehandelt
> Die Sozialbehörde entschied über Sozialleistungen anhand von Richtlinien,
> die gegen geltendes Recht verstießen. Das will niemandem aufgefallen
> sein.
Bild: Der falsche Vorwurf Sozialbetrug brachte 36 Personen ins Gefängnis
Stockholm taz | „Gesetzeskenntnis erleichtert die Rechtsfindung ganz
ungemein“, lautet ein althergebrachtes Juristensprichwort – von dem man in
Norwegen allerdings nicht viel zu halten scheint. Sieben Jahre lang
entschieden hier die Sozialbehörden aufgrund von Richtlinien, die gegen
geltendes Recht verstießen.
Tausende dürften betroffen sein, haben Sozialleistungen gegen geltendes
Recht nicht ausgezahlt bekommen oder mussten sich sogar vor Gerichts wegen
Sozialbetrugs verantworten. Die Entscheidungen wurden von 23 Gerichten bis
hin zum obersten Gerichtshof abgesegnet, weil sich anscheinend weder
RichterInnen noch Staats- oder Rechtsanwälte die Mühe machten, auch nur
einen Blick in die Gesetzgebung selbst zu werfen. Nun sprechen Medien von
einem der größten Justizskandale in der norwegischen Geschichte.
Es geht um [1][europäisches Sozialrecht]. In Norwegen, das zwar nicht
EU-Mitglied ist, in dem aber als Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums
dieses Recht ebenfalls gilt, trat am 1. Juni 2012 eine Verordnung in Kraft.
Vereinfacht gesagt besagt sie, dass Menschen, die Anspruch auf spezifische
Sozialleistungen nach nationalem Recht haben, das Recht auf diese nicht
durch einen auch längeren Aufenthalt in einem anderen EU-Land verlieren.
Nach norwegischem Recht war solcher Rechtsverlust bis dahin die Regel.
Auf diese Rechtsfolge wies die Regierung in Oslo mit einer öffentlichen
Bekanntmachung vom 27.10.2012 auch ausdrücklich hin. An NAV, der
zuständigen Behörde für Arbeitsmarkt- und Sozialleistungen, scheint diese
Änderung aber unbemerkt vorübergegangen zu sein. Wie am gesamten
Justizsystem.
## Mindestens 48 Strafverfahren wegen Sozialbetrugs
Jedenfalls wurden auch nach 2012 Tausenden ihre Sozialleistungen wie
Kranken-, Pflegegeld oder Erwerbsminderungsrente gestrichen, wenn sie sich
längere Zeit in einem anderen EU-Land aufhielten. Stellte NAV dies erst
nachträglich fest, gab es nicht nur teilweise sechsstellige
Rückzahlungsforderungen. Es wurden auch mindestens 48 Strafverfahren wegen
Sozialbetrugs durchgeführt. 36 Personen wurden wegen solcher Straftaten
verurteilt und sie mussten Haftstrafen von bis zu acht Monaten Dauer
absitzen.
In den bisher durch Medien bekannt gewordenen Einzelfällen legten die
Gerichte dabei den fälschlicherweise Verurteilten ironischerweise
ausgerechnet durchweg zur Last, sich nicht ausreichend über die Rechtslage
informiert zu haben. Beispielsweise wurde ein 35 Jahre alter finnischer
Staatsbürger 2016 zu 55 Tagen Haft wegen Sozialbetrug verurteilt, weil er
Erwerbsminderungsrente in Höhe von umgerechnet etwa 50.000 Euro bezogen
hatte, während er bei seiner Familie in Finnland wohnte. Dass er dies aus
Gesundheitsgründen und auf Anraten seines Arztes getan hatte, akzeptierte
das Gericht nicht als Entschuldigung.
Ebenfalls wegen Bezugs von Erwerbsminderungsrente wurde noch im September
dieses Jahres ein 38-Jähriger zu zwei Monaten Haft verurteilt, weil er
während des Leistungsbezugs zeitweise bei seiner Verlobten in Ungarn
weilte.
Dabei sind jedenfalls alle ab 2017 ergangenen Entscheidungen besonders
fragwürdig. Am Montag gestand NAV zu, man habe „nach gründlicher
juristischer Analyse“ festgestellt, dass man geltendes Recht falsch
ausgelegt habe. Einen Tag später stellte sich aber heraus, dass die Behörde
spätestens seit 2017 mindestens neunmal ausdrücklich von einer Instanz, die
für Widersprüche gegen ihre ablehnenden Entscheidungen zuständig ist, auf
ihr rechtswidriges Handeln hingewiesen worden war. Man entschied
stattdessen weiterhin wie bisher und informierte weder die Regierung noch
die Gerichte.
## „Eine unglaublich peinliche Geschichte“
„Eine unglaublich peinliche Geschichte für das gesamte Justizwesen“,
kommentiert Jan Fridthjof Bernt, Juraprofessor an der Universität Bergen
und Verwaltungsrechtsexperte. Nachträglich sei es ein Rätsel, warum nicht
nur RichterInnen mehrerer Instanzen und Staatsanwälten, sondern auch den
Rechtsanwälten, die Angeklagte und Mandanten in solchen Verfahren vertreten
hatten, nichts aufgefallen war. Das wundere ihn auch, meint Marius
Dietrichson vom Anwaltsverband: „Wir müssen uns wohl alle an die Nase
fassen. Gerichte, Anklagebehörde und Verteidiger.“
Generalstaatsanwalt Tor-Aksel Busch sprach von einem in der bisherigen
Rechtsgeschichte des Landes „einmaligen Vorgang“ und kündigte eine
Wiederaufnahme der entsprechenden Verfahren, Kompensation,
Haftentschädigung und Erstattung aller fehlerhaft eingezogenen Gelder an.
[2][Ministerpräsidentin Erna Solberg] beklagte: „So etwas darf in Norwegen
nicht passieren. Das ist ganz einfach ungerecht und schlecht.“ Die
oppositionelle Linkspartei spricht von „Katastrophe“ und fordert nicht nur
den Rücktritt der Chefin der NAV, der zuständigen Behörde für Arbeitsmarkt-
und Sozialleistungen, sondern kündigt auch ein mögliches Misstrauensvotum
gegen Arbeitsministerin Anniken Hauglie an.
Offiziell nennt NAV bislang eine Zahl von rund 2.400 durch die „fehlerhafte
Auslegung“ Betroffener. Olav Lægreid, Anwalt und Sozialrechtsexperte: „Ich
rechne eher mit 10.000.“
30 Oct 2019
## LINKS
[1] /Gewerkschafterin-ueber-EU-Politik/!5543753
[2] /Neue-Regierung-in-Norwegen/!5474618
## AUTOREN
Reinhard Wolff
## TAGS
Norwegen
Sozialbetrug
Sozialleistungen
Justizskandal
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