# taz.de -- Rechtsskandal in Norwegen: Klassenjustiz und EU-Widerstand | |
> Jahrelang kamen Menschen unschuldig wegen Sozialbetrug ins Gefängnis. | |
> Nach der Justiz rückt nun Norwegens Politik in den Fokus der Kritik. | |
Bild: Hochsicherheitsgefängnis von Halden: Hier saß ein falsch Verurteilter u… | |
STOCKHOLM taz | „Es ist so, als hättest du einen großen Stempel auf deiner | |
Stirn: Betrüger! Ein gefährlicher Krimineller, der den Staat betrogen hat.“ | |
Rune Halseth erzählte am Samstag im norwegischen Radio, wie es ist, wenn | |
man auf einmal als Straftäter dasteht: „Die Polizei holt dich zuhause ab. | |
Alle reden plötzlich über dich. Die Familie wird mit hineingezogen Es gibt | |
Gerüchte.“ | |
2016 war Halseth zu einer Haftstrafe von fünf Monaten verurteilt worden. | |
Der Vorwurf: Schwerer Sozialbetrug. Die Begründung: Er habe die | |
Sozialbehörde NAV um umgerechnet 30.000 Euro betrogen, weil er | |
Erwerbsminderungsrente auch für Zeiten erhalten habe, zu denen er sich | |
nicht in Norwegen, sondern bei Freunden in Dänemark aufgehalten habe. Vier | |
der fünf Monate, zu denen er verurteilt worden war, musste er im | |
Hochsicherheitsgefängnis von Halden zusammen mit Schwerkriminellen | |
absitzen: „Wenn du das hinter dir hast, bist du ein anderer Mensch.“ | |
Halseth war unschuldig. Gegen ihn erging eines von mindestens 48 | |
Fehlurteilen. Alle mit der falschen Begründung, als Bezieher norwegischer | |
Sozialleistungen müsse man sich an norwegische Regeln halten und die | |
erlaubten keinen zeitweisen Aufenthalt außerhalb Norwegens. | |
Die Gerichte hatten ohne eigene rechtliche Prüfung einfach die | |
Argumentation der Sozialbehörde übernommen – die aber in Wirklichkeit gegen | |
geltendes Recht verstieß. Nach europäischem Recht, das in Norwegen als | |
einem Land des europäischen Wirtschaftsraums EWR gilt, war – Stichwort | |
Freizügigkeit – für den fraglichen Leistungsbezug der Aufenthaltsort in | |
Wirklichkeit völlig unerheblich. | |
## „Zu übereifrig, politischen Signalen zu folgen“ | |
Mindestens sieben Jahre lang hatte die Behörde in mehreren Tausend | |
Verfahren rechtswidrig entschieden und die Gerichte hatten die falsche | |
Auslegung übernommen. Letzte Woche war dieser [1][Rechtsskandal geplatzt]. | |
Erste Erklärungsversuche für das Verhalten der Gerichte hatten darauf | |
abgestellt, RichterInnen seien eben überlastet. Aber was, wenn Behörde und | |
Justiz sich bei ihren Entscheidungen vor allem daran orientierten, wie sie | |
dem mutmaßlichem Willen der Politik entsprechen können? | |
Manche Richter seien ganz einfach „zu dienstbereit und übereifrig, | |
politischen Signalen zu folgen“, vermutet Mads Andenæs, Professor an der | |
Uni Oslo und Experte für internationales Recht und Menschenrechte. Wobei es | |
kein Zufall sei, dass dies in einem Bereich mit Bezug zum Ausländerrecht | |
passiert sei: „Die Politik legt ja Wert darauf, dass es Ausländern in | |
Norwegen so schwer wie möglich gemacht wird.“ | |
Angesichts des traditionell großen EU-Widerstands im Lande habe die Politik | |
alles getan, um in der Öffentlichkeit den Eindruck zu wecken, der Status | |
Norwegens als EWR-Mitglied ändere im Prinzip nichts an der nationalen | |
Souveränität, sagt Imran Haider, Jurist beim Gewerkschaftsdachverband LO – | |
obwohl die natürlich durchaus begrenzt worden sei. | |
## „Scheiß auf Europa, wir sind in Norwegen“ | |
Freizügigkeit sei nun mal ein Grundprinzip im EU/EWR-Raum. Die | |
Verantwortlichen machten sich deshalb jetzt auch lächerlich, wenn sie mit | |
einer angeblich „komplizierten Rechtslage“ entschuldigen wollten, dass man | |
jahrelang versucht habe, Menschen über finanzielle Repressalien diese | |
Freizügigkeit einzuschränken. | |
„Scheiß auf Europa, wir sind hier in Norwegen“ lautete offenbar das Motto, | |
meint auch Rechtsanwalt Helge Hjort. Dabei hatte der für solche | |
Rechtsfragen zuständige [2][EFTA-Gerichtshof] schon in einem Urteil vom 20. | |
März 2013 (E-3/12) grundsätzlich festgestellt: Die EWR-Regeln „sind ein | |
Hindernis für Vorschriften im nationalen Recht, die die faktische | |
Anwesenheit im fraglichen EWR-Staat zur Voraussetzung für den | |
Leistungsbezug machen“. | |
Was für Oslo alles andere als überraschend gekommen sein dürfte. Bevor das | |
Land nämlich 2012 die entsprechende EU-Verordnung übernahm, hatte es eine | |
ausführliche Debatte darüber gegeben, wie man vermeiden könne, dass | |
nicht-norwegische Bezugsberechtigte Sozialleistungen „einfach mit nach | |
Hause nehmen“ könnten. Von der damaligen sozialdemokratischen Regierung | |
bestellte juristische Analysen hatten alle das gleiche Ergebnis gehabt: Das | |
gehe nicht, denn diese Verordnung habe Vorrang vor widersprechenden | |
nationalen Regeln. Daraufhin wurde offensichtlich das Motto ausgegeben, | |
europäisches Recht ganz einfach erst einmal so lange wie möglich zu | |
ignorieren. | |
## Dafür gibt es ein Wort: Klassenjustiz | |
Schon im ersten Regierungsprogramm der seit 2013 regierenden | |
Rechts-Rechtsaußen-Koalition aus Konservativen und rechtspopulistischer | |
Fortschrittspartei wurde die Wichtigkeit von Maßnahmen zur Begrenzung oder | |
dem Stop von „Sozialleistungsexport“ ausdrücklich hervorgehoben. Ein hoher | |
Regierungsjurist hatte schon Jahre zuvor empfohlen, an „nationalen | |
Ordnungen, die eine politische Mehrheit will“ einfach festzuhalten und | |
darauf zu hoffen, dass sie nur im Einzelfall von Personen mit den | |
notwendigen Ressourcen rechtlich angegriffen würden. | |
Es sei sicher kein Zufall, dass vom jetzt aufgedeckten Justizskandal | |
Personen betroffen seien, die gerade solche Ressourcen nicht hatten, sagt | |
der Verwaltungsrechtsprofessor Jan Fridthjof Bernt. „Rechtssicherheit hängt | |
also nach wie vor davon ab, welche finanziellen Möglichkeiten du hast und | |
wer du bist.“ Dafür gibt es ein Wort: Klassenjustiz. Und diesen Begriff | |
gebrauchten in den letzten Tagen zunehmend norwegische Medienkommentare. | |
Und Rune Halseth? Sein Verteidiger hat ihm jetzt mitgeteilt, er werde für | |
ihn ein Wiederaufnahmeverfahren beantragen, damit der 55-jährige seine | |
Unschuld schwarz auf weiß bestätigt bekomme. Er kann mit Haftentschädigung | |
rechnen, die Rückzahlung der angeblich unrechtmäßig erhaltenen Gelder, die | |
er seit drei Jahren monatlich abstottert, wird gestoppt und er erhält das | |
bereits Bezahlte wieder zurück. Eine wirkliche Wiedergutmachung sei das | |
nicht, meint er: „Das hat der Staat mir ja gestohlen.“ | |
3 Nov 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Justizskandal-in-Norwegen/!5637542 | |
[2] https://eftacourt.int/ | |
## AUTOREN | |
Reinhard Wolff | |
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