# taz.de -- FDP-Wahlkampf in Thüringen: Mit Cowboystiefeln in den Landtag | |
> Die FDP kämpft vor der Wahl in Thüringen für den Sprung über die | |
> Fünfprozenthürde. Wenn er gelingt, könnte Rot-Rot-Grün Geschichte sein. | |
Bild: FDP-Chef Christian Lindner und Thomas Kemmerich beim Wahlkampfauftakt in … | |
SUHL/ERFURT taz | An einem Freitagnachmittag im Oktober, wenige Stunden | |
bevor Christian Lindner in Suhl ans Mikrofon geht, tritt die FDP im | |
Bundestag gegen einen Bewerber bei ihrer Fraktion nach. [1][Auf Twitter | |
zitiert sie aus dem Vorstellungsgespräch] um eine Stelle. Frage der FDP an | |
den Bewerber: „Der Text der aktuellen Initiative muss zu einem | |
Abgeordneten-Kollegen. Was machen Sie?“ „Ausdrucken und rüberfaxen“, sei | |
die Antwort des Bewerbers gewesen, höhnt die FDP, die damit zu einem | |
Twitter-Witz über missratene Vorstellungsgespräche beiträgt. | |
Möglicherweise ist das Gespräch erfunden. Aber der Hochmut der Liberalen, | |
die deutsche Internetpartei zu sein, ist real. Dabei wirkt in der Praxis | |
vieles, als hätte die FDP in der Vergangenheit Menschen mit guten | |
Faxkenntnissen eingestellt. In Thüringen, wo die Liberalen gerade eine Art | |
Schicksalswahlkampf führen, stehen die Veranstaltungstermine auch Ende | |
September noch nicht auf der FDP-Homepage. Eine Mitarbeiterin schickt sie | |
auf Anfrage wenig später – immerhin als E-Mail. | |
Die FDP hat in diesem Jahr keinen guten Lauf. [2][Bei der Europawahl] | |
erreichte sie 5,4 Prozent, bei den Landtagswahlen blieb sie [3][in | |
Brandenburg] und Sachsen trotz Zugewinnen unter der Fünfprozenthürde. Im | |
liberalen Lager herrscht Unruhe. Vize Wolfgang Kubicki beklagte öffentlich, | |
die FDP-Stammwähler über 60 würden nicht mehr angesprochen. Die Umfragen | |
für Thüringen sehen die FDP derzeit mal bei 4, mal bei 5 Prozent. | |
## Wie mit Lindner im Unterhemd | |
In Suhl steht am Abend Thomas Kemmerich auf der Bühne des Kongresszentrums. | |
Vielleicht 150 Zuhörer sitzen im Saal, ein gemischtes Publikum mit leichtem | |
Männerüberhang. Suhl war zu DDR-Zeiten Hauptstadt des kleinsten Bezirks, | |
die Stadtmitte ist immer noch von Plattenbauten geprägt. Von Erfurt führt | |
nur eine eingleisige Bahnstrecke dorthin. | |
Kemmerich, ein 54-jähriger Unternehmer, ist Spitzenkandidat der FDP für die | |
Landtagswahlen. Weder habe Greta recht, dass am nächsten Freitag die Welt | |
untergehe, noch würde man von Migranten überrannt, wenn man Einwanderung | |
richtig gestalte, sagt er. „Gegen den Trend: vernünftig“, heißt das | |
zentrale Wahlkampfmotto der Liberalen. | |
Kemmerich trägt Cowboystiefel. Die FDP vermarktet das als Kennzeichen ihres | |
Spitzenkandidaten, ähnlich wie Lindners Unterhemd im vergangenen | |
Bundestagswahlkampf. Am Rande der Bühne ist ein Glaskasten aufgebaut, in | |
dem ein weiteres Stiefelpaar Kemmerichs von unten bestrahlt wird. Ein | |
Cowboystiefel-Schrein. Kemmerich spricht über fehlende Lehrer in Thüringen, | |
zu viel Bürokratie für Unternehmen, die mangelnde Wertschätzung von | |
Rot-Rot-Grün für die Landwirtschaft und, natürlich, die mangelnde | |
Internettauglichkeit des Landes: „Wir brauchen an jeder Milchkanne | |
Breitband.“ | |
## Lindner, der Hobby-Sezierer | |
Dann tritt Christian Lindner auf die Bühne: Sakko, Jeans, schwarzes | |
T-Shirt, Turnschuhe. Lindner redet über den Anschlag von Halle – ein Thema, | |
das Kemmerich ausgespart hat: „Wir sind alle gefordert zu widersprechen, | |
wenn Menschen Ressentiments oder Antisemitismus verbreiten. Wer schweigt, | |
stimmt zu – ich sage das gerade im Land von Björn Höcke.“ | |
Und widmet sich dann seinem Lieblingsthema – dem lustvollen Sezieren von | |
SPD, Grünen und Linken: „Wir haben in Deutschland viel Hysterie“, sagt er | |
in Anspielung auf die Klimaproteste. „Viele sagen: Warum soll ich noch | |
lernen? Bald bin ich tot.“ Es gebe Parteien, deren „Geschäftsmodell“ es | |
sei, Angst zu schüren. Deshalb brauche es eine Stimme der Vernunft in den | |
Parlamenten. | |
Wie groß ist die Sehnsucht der Deutschen nach Mitte? Die Lindner-FDP ist | |
auch eine Wette darauf, dass eine bürgerliche Partei Erfolg haben kann, | |
gerade weil sie den Grünen nicht nacheifert. Dass Männer in Unterhemd und | |
Cowboystiefeln mit Greta-Witzen reüssieren können. Und dass weich wirkende | |
Parteivorsitzende mit Strubbelhaaren und [4][mangelnden | |
Pendlerpauschalen-Kenntnissen wie Robert Habeck] nicht das letzte Wort der | |
Geschichte sind. | |
Das Problem der FDP: In diesem Jahr wird auf Landesebene außer in Bremen | |
nur in Ostdeutschland gewählt. Dort, wo eine breite bürgerliche | |
Wählerschicht nicht existiert. Wegen der DDR-Geschichte und der | |
Wirtschaftspolitik nach der Vereinigung. 1990 holte die FDP in Thüringen | |
9,3 Prozent – ihr bestes Ergebnis nach der Wende. Die CDU erhielt 45,4 | |
Prozent. Zusammen eine satte bürgerliche Mehrheit. | |
Heute steht die Linke in Umfragen bei 27 bis 29 Prozent, die AfD bei 20 bis | |
24. Spitzenkandidat Kemmerich sieht ein Problem in der Abwanderung: | |
„400.000 Menschen haben Thüringen seit der Wende verlassen – Leute, die f�… | |
unsere Botschaften empfänglich sind, weil sie gesagt haben, wir nehmen | |
unser Glück selbst in die Hand“, sagt er der taz. In Thüringen hat die FDP | |
heute 1.300 Mitglieder. | |
## Die zweite Reihe nimmt den Holzhammer | |
Wenn es am 27. Oktober schiefgeht, werden die Debatten um Partei- und | |
Fraktionschef Christian Lindner wieder zunehmen. Aber wie sehr die | |
Liberalen von ihm abhängen, wird in Suhl gleich zum Auftakt deutlich. Als | |
Erstes tritt Gerald Ullrich auf die Bühne, auf Platz 2 der FDP-Landesliste | |
Thüringen hinter Kemmerich in den Bundestag gerutscht. | |
Wo Lindner rhetorisch ausgefeilt ist und Kemmerich solide, arbeitet Ullrich | |
mit dem Holzhammer. „Die Grünen kooperieren heute mit denen, die | |
jahrzehntelang in der DDR die Menschenrechte mit Füßen getreten haben“, | |
sagt der Unternehmer. Die Linke würde mit dem von ihr geforderten | |
Untersuchungsausschuss zur Treuhand die Gesellschaft spalten: „Man wird im | |
Osten die Bösen aus dem Westen finden.“ | |
Lindner setzt zum Schluss seiner Rede auf eine Zweitstimmentaktik: „Ein | |
oder zwei Prozent mehr für die CDU – völlig egal“, ruft er. „Aber ein o… | |
zwei Prozent mehr für die FDP können alles verändern. Bei keiner Partei | |
zählt eine Stimme so viel wie bei der FDP.“ Dabei war die Lindner-FDP | |
einmal stolz darauf gewesen, bei CDU-Anhängern nicht mehr um Zweitstimmen | |
betteln zu müssen. „Wer eine andere Lieblingspartei als die FDP hat, der | |
kann diese ja wählen“, hatte Lindner auf dem Parteitag im Frühjahr 2017 | |
selbstbewusst verkündet. | |
Käme die FDP in den Erfurter Landtag, wäre Rot-Rot-Grün wohl Geschichte. | |
Kemmerich gibt sich optimistisch: „Uns ist klar, dass es ein knappes, aber | |
erfolgreiches Ding wird“, sagt er am Montag zur taz. „Die bisherigen | |
Umfragen haben noch in den Ferien stattgefunden, viele Leute kommen jetzt | |
erst aus dem Urlaub zurück.“ | |
Am Samstag vergangener Woche hat die FDP einen Landesparteitag im Erfurter | |
Radisson-Hotel angesetzt. Es ist einer jener in Mode gekommenen | |
PR-Parteitage kurz vor Wahlen. Es geht nur um die Außenwirkung. | |
Parteiprominente halten eine Rede, eine Resolution, die als | |
Pressemitteilung niemand interessiert hätte, wird beschlossen. Der | |
Parteitag ist auf dreieinhalb Stunden angesetzt. Tatsächlich wird schon um | |
12.30 Uhr, eineinhalb Stunden nach der Eröffnung, wieder Schluss sein. | |
## Eine Rote-Socken-Rede | |
Lindner hat abgesagt, stattdessen spricht Linda Teuteberg. Zu Beginn des | |
Jahres hatte Lindner die bisherige, eher glücklose Generalsekretärin Nicola | |
Beer zur Spitzenkandidatin für das Europaparlament gemacht und anschließend | |
Teuteberg als ihre Nachfolgerin vorgeschlagen. Vielleicht auch aufgrund des | |
Drängens in zahlreichen Medien, die überwiegend von Männern gewählte FDP | |
müsse weiblicher werden. | |
Aber Beer brockte ihm im Wahlkampf Diskussionen über ihre Verbindungen zur | |
ungarischen Orbán-Regierung ein. Teuteberg hat bisher nicht recht gezündet. | |
Schon ihre Antrittsrede auf dem Parteitag war kein Glanzstück. | |
In Erfurt hält sie eine Rote-Socken-Rede, ähnlich wie Gerald Ullrich am | |
Abend zuvor. Linken-Ministerpräsident Bodo Ramelow hat einige Tage zuvor | |
eine Steilvorlage geliefert, als er sich weigerte, die DDR als | |
„Unrechtsstaat“ zu bezeichnen. „Ein Staat, der ein ganzes Land eingemauert | |
und Hunderttausende eingesperrt hat, ist ein Unrechtsstaat“, sagt | |
Teuteberg. „Wer das leugnet, verhöhnt die Opfer.“ Statt von der Linken | |
spricht sie von der „SED und ihren Nachfolgeorganisationen“. | |
So geht es weiter: „Heute kommen wieder einige mit Vorschlägen aus der | |
sozialistischen Mottenkiste“, sagt Teuteberg. Dabei habe „der Sozialismus | |
weder für Wohnungsnot noch Umweltzerstörung eine Lösung“. Später ätzt | |
Teuteberg gegen Extinction Rebellion: „Hier vereinnahmen einige Radikale | |
Klimaschutz für ihren Angriff auf das politische System.“ | |
Es klingt ein bisschen wie im Bundeswahlkampf 1976, als die CDU gegen den | |
SPD-Realo Helmut Schmidt mit dem Slogan „Freiheit statt Sozialismus“ | |
punkten wollte. Ramelow bietet abgesehen von der „Unrechtsstaat“-Äußerung | |
wenig Angriffsfläche, hinter der heutigen Linkspartei die alte SED zu | |
vermuten. | |
Zum Abschluss verabschiedet die FDP einen „Fünf-Punkte-Plan für Thüringen�… | |
Darin geht es um ein Stipendium für Gründer, Bürokratieabbau, mehr innere | |
Sicherheit durch die Neueinstellung von 600 Polizisten und gegen | |
Windkraftanlagen im Wald. Der erste Punkt: ein Tablet für jeden Schüler. | |
Die FDP versucht es wieder als Internetpartei. | |
22 Oct 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/fdpbt/status/1182677201591963649 | |
[2] /Schwerpunkt-Europawahl/!t5533778 | |
[3] /Schwerpunkt-Landtagswahl-2019-in-Brandenburg/!t5032810 | |
[4] https://twitter.com/marianbracht/status/1175826395446108162 | |
## AUTOREN | |
Martin Reeh | |
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