# taz.de -- Debatte um grüne Politik: Empörung und Reflexe | |
> In Berlin stellt FDP-Chef Christian Lindner das neue Buch des Tübinger OB | |
> Boris Palmer vor. Darin geht es auch um Identitätsfragen. | |
Bild: Boris Palmer und Christian Lindner am Montag in Berlin | |
BERLIN taz | „Die Leitfigur der neuen Linken ist nicht länger der | |
Außenseiter, es ist der Gefolgsmensch“, schreibt Jan Fleischhauer, früher | |
Spiegel, heute Focus, in seiner wöchentlichen Kolumne. „An die Stelle des | |
Dissidenten ist der Mitläufer getreten, der die Fahne aufnimmt und sich in | |
den Demonstrationszug einreiht.“ Früher habe die Linke dagegen „ihre Kraft | |
und ihren Elan nicht aus dem Betonen der Zugehörigkeit, sondern aus dem | |
Dissens, dem Aufbegehren“ bezogen. | |
Dabei haben die Grünen zumindest noch einen Dissidenten: Boris Palmer. Am | |
Montag stellte der Tübinger Oberbürgermeister sein neues Buch „[1][Erst die | |
Fakten, dann die Moral“ (Siedler Verlag, 20 Euro)] in Berlin vor. Der | |
Tagesspiegel hatte geladen, das – dem Äußeren nach zu urteilen – | |
(West-)Berliner Bildungsbürgertum füllte den Saal. Als der bei | |
Buchvorstellungen übliche Rezensent von der anderen Seite des politischen | |
Spektrums war FDP-Chef Christian Lindner dabei. | |
Palmer sei immer „gut für eine abweichende Meinung“, sagte Lindner in | |
seiner Rezension zum Auftakt. „Er genießt es, die Empörten bei ihren | |
Empörungsreflexen zu beobachten.“ Deshalb scheine es „überraschend, dass … | |
ein Buch vorlegt, das für mehr Nachdenklichkeit plädiert“. | |
Als Oberbürgermeister sei man „Repräsentant, Manager und der Erste, der das | |
Sorgentelefon abnimmt“. Das gebe dem Buch eine „Geländegängigkeit, die man | |
hier in Berlin oft vermisst“. Denn es gebe „nicht nur den Prenzlauer Berg, | |
sondern auch Prenzlau ohne Berg“, so Lindner. | |
Danach ging es in die Debatte mit Palmer, moderiert von | |
Tagesspiegel-Herausgeber Stephan-Andreas Casdorff. Palmer taugt schon | |
deshalb für einen spannenden Abend, weil er auf eine Reihe von Themen vom | |
Klima- bis Mieterschutz einen urgrünen Blick hat, dann aber abweicht, wo | |
man es von Grünen nicht erwartet. Nicht nur in der Flüchtlingspolitik, | |
sondern auch in der Dieselfrage. | |
„Ich will ja die Verkehrswende“, sagte er. „Aber kann doch für das Ziel, | |
Autos aus der Stadt rauszubekommen, nicht Argumente anführen, die keiner | |
Überprüfung standhalten.“ In Stuttgart sei der Diesel für 6 Prozent der | |
Feinstaubemissionen verantwortlich. Andere Lebensrisiken wie Stress seien | |
wesentlich problematischer. | |
Lindner wiederholte an dieser Stelle, was er schon am vergangenen Freitag | |
ähnlich in der Welt geschrieben hatte: Es gebe „einen Kulturkampf gegen die | |
individuelle Mobilität“. Aber nicht jeder wolle „an jedem Tag mit dem | |
Fahrrad fahren“. Der FDP-Chef plädierte für alternative Antriebstechniken, | |
Palmer für das Einziehen von „Leitplanken, um die Nutzung von Autos in der | |
Stadt zu reduzieren“. Aus Klimagründen. Auch bei Mietfragen und | |
Energiepolitik lagen Lindner und Palmer auseinander. | |
Erst zum Schluss rief Casdorff den für Grüne wohl kontroversesten Punkt des | |
Buches auf. Palmer hat ein langes Kapitel gegen Identitätspolitik | |
geschrieben. „Alte weiße Männer gelten als Täter, schwarze Frauen als | |
Opfer“, sagte er. „Je weiter oben Sie in der Täterhierarchie sind, desto | |
geringer ist ihr Recht, in der öffentlichen Debatte Stellung zu beziehen.“ | |
Freiheit und Gleichheit in der öffentlichen Debatte würden durch | |
„Gekränktheit“ ersetzt. „Identitätspolitik generiert neue Spaltungen in… | |
Gesellschaft.“ Aber so recht kam die Debatte nicht in Fahrt. Lindner sprach | |
lieber über Journalismus, der durch soziale Medien getrieben würde. | |
Casdorff fragte, ob sich Palmer mehr Unterstützung von Parteifreunden | |
gewünscht hätte. Zu Robert Habeck habe er ein gutes Verhältnis, andere | |
würden mit ihm nicht mehr reden, sagte Palmer. Die Grünen hätten sich | |
gegründet, „um ein repressives Meinungsklima zu überwinden“. Nun aber wer… | |
über Häresie geklagt, wenn er sich äußere. | |
Das wäre doch eine Debatte wert gewesen. Denn die Identitätspolitik hat | |
sich bei den Grünen wie bei keiner anderen Partei ohne große | |
innerparteiliche Diskussionen durchgesetzt. Das kann dafür sprechen, dass | |
sie eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Es kann aber auch heißen, dass | |
bei den Grünen der moralische Druck zur Konformität höher ist als anderswo. | |
Habecks Wuschelfrisur wäre dann die Camouflage für eine Partei, die | |
manchmal schwierige, aber originelle Repräsentanten wie Palmer längst nicht | |
mehr schätzt. | |
24 Sep 2019 | |
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## AUTOREN | |
Martin Reeh | |
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