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# taz.de -- Debatte über die BDS-Bewegung: Künstliches Fieber, echter Hass
> Die Panik angesichts der BDS-Bewegung in Deutschland lenkt uns von der
> wirklich antisemitischen Bedrohung durch Neonazis ab.
Bild: Wir dürfen nicht zulassen, dass die BDS-Debatte die über Israels Besatz…
Die Diskussion über die BDS-Bewegung hat im zurückliegenden Sommer
erhebliche Panik, ja geradezu Fieberschübe in Deutschland ausgelöst – „BD…
steht für Boykott, Divestment und Sanktionen gegen Israel, als Kritik an
dessen Besatzungspolitik. Der Deutsche Bundestag nahm im Mai einen Antrag
an, die [1][BDS-Bewegung als im Kern antisemitisch] zu verurteilen.
Im Juni sah sich Peter Schäfer, der Direktor des J[2][üdischen Museums in
Berlin], zum Rücktritt gezwungen, weil er zugelassen hatte, dass das Museum
[3][auf Twitter einen Artikel aus der taz geteilt] hatte. Darin ging es um
einen Brief von 240 jüdischen und israelischen Akademikern an den
Bundestag, in dem die Wissenschaftler sich gegen dessen BDS-kritische
Entschließung ausgesprochen hatten. Sie argumentierten, dass es historisch
und faktisch falsch sei, BDS mit Antisemitismus gleichzusetzen.
Als der Spiegel im Juli über das Zustandekommen der Bundestagsresolution
recherchierte und berichtete, dass ihrer Verabschiedung eine intensive
Lobbyarbeit der beiden proisraelischen Gruppen „WerteInitiative“ und
„Nahost Friedensforum“, kurz: Naffo, vorausgegangen war, wurde dies in
jüdischen Publikationen und von deutsch-jüdischen Stimmen aufgegriffen und
als antisemitisch kritisiert.
Auch in den USA arbeitet man sich an BDS ab – und reagiert empfindlich auf
alles, was auch nur im Entferntesten als Attacke auf das jüdische Volk
gesehen werden könnte. Anfang des Sommers hatten bereits 27 der 50
Bundesstaaten Gesetze gegen BDS verabschiedet. Als die Kongressabgeordnete
Alexandria Ocasio-Cortez aus New York im Juni die entsetzlichen Haftzentren
für asylsuchende Migranten an der Südgrenze der USA als
„Konzentrationslager“ bezeichnete, blies ihr ein Sturm der Entrüstung
entgegen. Sie habe den Holocaust verharmlost und die Gefühle des jüdischen
Volkes verletzt. Das Simon-Wiesenthal-Zentrum warf ihr vor, „Opfer des
Völkermords zu beleidigen“, während die Anti-Defamation League rügte, dass
sie Vergleiche mit dem Holocaust ziehe.
## Alle Vergleich mit dem Holocaust zurückgewiesen
Ungewöhnlich war, dass das Holocaust-Gedenkmuseum in Washington (USHMM)
noch darüber hinaus ging und in einer Erklärung alle Vergleiche zwischen
„dem Holocaust und anderen Ereignissen“ zurückwies. Als Reaktion darauf
verfassten 580 Wissenschaftler – viele von ihnen mit direkten Verbindungen
zum Museum – einen Protestbrief und verurteilten den Beschluss des USHMM,
„jeglichen möglichen Vergleich mit dem Holocaust oder den zu ihm
hinführenden Ereignissen grundlegend abzulehnen“, als „im Grundsatz
unhistorisch“.
Ende Juli verabschiedete das US-Repräsentantenhaus seinerseits eine
Resolution, die BDS verurteilte – mit der überdeutlichen Mehrheit von 398
zu 17 Stimmen. Das klare Ergebnis wurde allgemein als Antwort auf die
kritischen Stellungnahmen zur unhinterfragten Unterstützung Israels durch
die USA angesehen, wie sie von Ocasio-Cortez sowie der
palästinensischamerikanischen Abgeordneten Rashida Tlaib aus Michigan und
der somalischamerikanischen Abgeordneten Ilhan Omar aus Minnesota abgegeben
worden waren.
Als jüdischer US-Bürger, der die Boykottbewegung unterstützt, und als
Historiker, der über das jüdische Volk und den Holocaust forscht, sowie als
Unterzeichner beider Briefe hat mich die Art und Weise alarmiert, in der
die BDS-Bewegung falsch charakterisiert und dämonisiert wird. Mir geht es
dabei um zwei Punkte: Zunächst ist der Versuch, BDS als antisemitisch
darzustellen, vor allem ein Trick, um legitime Kritik an Israels Umgang mit
den Palästinensern in den besetzten Gebieten abzuwehren. Zum anderen – und
genauso besorgniserregend – verkennen all jene, die vor BDS warnen, die
sehr viel gefährlichere Bedrohung, die für Juden und andere Minderheiten in
beiden Ländern von rassistischen Vorkämpfern einer weißen Vorherrschaft
ausgeht.
Als die Gewalt zwischen Israel und den Palästinensern in den besetzten
Gebieten am heftigsten tobte, steckten Linke und Liberale im Westen in
einem schweren Dilemma, wenn sie die palästinensische Sache unterstützen
wollten, aber auf keinen Fall bereit waren, Terroranschläge gegen
israelische Zivilisten hinzunehmen. (Israelische Angriffe auf
palästinensische Zivilisten kamen wesentlich häufiger vor, führten aber
nicht zu den gleichen Seelenqualen, sei hier angemerkt). Vor allem in den
1990er Jahren, in der Zeit zwischen der Ersten und der Zweiten Intifada,
hörte man sinngemäß oft die Klage: „Wenn die Palästinenser sich doch zur
Gewaltlosigkeit bekennen würden, dann könnten wir ihre Sache unterstützen.“
Die Selbstmordattentate, Anschläge auf Busse und Steinwürfe waren für diese
Liberalen Grund genug, über Israels systematische Unterdrückung der
Palästinenser hinwegzusehen. Dazu gehörten außergerichtliche Tötungen, die
Beschlagnahme palästinensischen Bodens, unbegrenzte Inhaftierung und
regelmäßige Militärüberfälle auf die Zivilbevölkerung.
Die BDS-Bewegung hat seit ihrer Gründung 2005 genau solch eine Strategie
des gewaltlosen Widerstands gegen Israel befürwortet, die einst von der
westlichen Linken gefordert wurde. Sie will, dass Israel zur Einhaltung des
Völkerrechts gezwungen wird. Nicht mit Gewalt, sondern mittels
wirtschaftlicher, sozialer, kultureller, politischer und akademischer
Ausgrenzung und Isolation. Obwohl dies eine pazifistische Strategie ist,
um palästinensisches Leid zu beenden, haben sich ansonsten wohlmeinende
liberale und fortschrittliche Menschen an die Seite weniger wohlmeinender
israelischer Politiker und zionistischer Organisationen gestellt, die
BDS als die größte existenzielle Bedrohung des jüdischen Staates
bezeichnen und von einem klaren Fall von Antisemitismus sprechen.
Immer häufiger hört man, dass ein „neuer Antisemitismus“, wie er etwa von
BDS ausgehe, zu einer Gefahr für Juden zu werden drohe, wie man sie seit
dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust nicht mehr erlebt habe. Studien
mehrerer bedeutender jüdischer Organisationen warnen vor Antisemitismus als
„klarer und offensichtlicher Gefahr“, und eine Reihe von Kommentatoren
warnen, dass ein weiterer „Krieg gegen die Juden“ bevorstehe. Solche
Aussagen sind weniger von einer realen Gefahr für die Juden in den USA und
in der übrigen Welt motiviert, sondern sie sind Teil einer beständigen
Kampagne, Debatten, Gespräche, wissenschaftliche Forschung und politische
Aktivitäten zu verhindern, die Israels Umgang mit den Palästinensern
kritisieren.
In Wahrheit ist der „alte Antisemitismus“ der extremen Rechten eine viel
größere Bedrohung für Juden, er zwingt uns zu Wachsamkeit und anhaltendem
Widerstand. In Deutschland hat der Rechtsextremismus Ausmaße erreicht, die
es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gab. Als Beispiel muss
man zuallererst den schockierenden Angriff an Jom Kippur [4][letzte Woche
in Halle] nennen. Halle war nur eine Fortsetzung: Erinnern wir uns an die
migrationsfeindlichen und antisemitischen Massendemonstrationen in Chemnitz
und an die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke.
## Ablenkung von der tatsächlichen Bedrohung
In den USA haben weiße Rassisten, die von Trumps rassistischen Ausfällen
und Maßnahmen ermutigt werden, Synagogen, jüdische Gemeindezentren und
Friedhöfe angegriffen. In Pennsylvania und Kalifornien wurde ein Dutzend
jüdischer Synagogenbesucher erschossen. Anfang August ermordete ein
bewaffneter weißer Rassist in El Paso, Texas, 22 Menschen, weil er
überzeugt war, eine „hispanische Invasion in Texas“ stoppen zu müssen.
Wir dürfen nicht zulassen, dass die Debatten um BDS Israels illegale und
unmoralische Besetzung Palästinas in den Hintergrund treten lassen. Wir
dürfen genauso wenig zulassen, dass die Debatten über BDS uns von der
tatsächlichen Bedrohung ablenken, mit der Juden und andere ethnische oder
religiöse Minderheiten in Europa und in den USA konfrontiert sind. Es gibt
ja zahlreiche jüdische Gruppen und Einzelpersonen, die sowohl aus
Solidarität mit den Palästinensern als auch aus dem Bedürfnis, sich weißem
Rassismus entgegenzustellen, BDS ausdrücklich unterstützen.
Da man weiß, dass der Zionismus erfolgreich einen jüdischen Nationalstaat
gründen konnte, einen Staat mit Grenzen, Streitkräften, einem Wahlsystem
und Nuklearwaffen – und da gleichzeitig viele Juden innerhalb wie außerhalb
Israels nicht mit Israels Umgang mit den Palästinensern einverstanden sind,
ist es offensichtlich historisch und faktisch falsch, die BDS-Bewegung als
im Wesenskern antisemitisch zu bezeichnen.
Wer darauf besteht, dass der israelische Staat kein Ziel von Protesten oder
Boykottaufrufen sein darf, wer vorschreibt, dass die Macht des jüdischen
Kollektivs nicht analysiert oder infrage gestellt werden darf, oder wer zu
dem Schluss kommt, dass wir Juden, weil wir einmal Opfer eines der größten
genozidalen Verbrechen der Menschheit wurden, irgendwie immun gegen die
Versuchung seien, gewaltsam gegen andere Völker vorzugehen, der verstärkt
nur den antisemitischen Glauben, dass das Volk der Juden sich fundamental
von anderen Völkern unterscheide. Und der ermöglicht, dass das Leid der
Palästinenser unter israelischer Besetzung sich ungehindert fortsetzt.
Außerdem machen es Versuche, die Definition von Antisemitismus auf
Phänomene zu erweitern, die eindeutig nicht gegen Juden als solche
gerichtet sind, nur schwieriger, tatsächlich antisemitischen Hass zu
erkennen, zu isolieren und sich ihm zu widersetzen, wo immer er auftritt.
Übersetzung aus dem Englischen: Stefan Schaaf
22 Oct 2019
## LINKS
[1] /Juergen-Trittin-zur-Boykottbewegung-BDS/!5592992
[2] /Kommentar-Juedisches-Museum/!5603427
[3] /BDS-Tweet-des-Juedischen-Museums-Berlin/!5600322
[4] /Das-Attentat-von-Halle/!5628896
## AUTOREN
Barry Trachtenberg
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