| # taz.de -- Abschied vom Wachstum: Schrumpfen in Schönheit | |
| > Die Grünen wollen CO2-Emissionen teurer machen. Das wird wenig bringen. | |
| > Ein besseres Vorbild könnte die britische Kriegswirtschaft ab 1940 sein. | |
| Bild: Nein, E-Autos plus Co2-Steuer sind nicht die Lösung für die Klimakrise | |
| Was für ein ungewohntes Bild: Neben dem Berliner Kanzleramt stehen Zelte. | |
| Schon [1][seit Tagen campiert dort] „Extinction Rebellion“. Die | |
| Aktivist*innen wollen erreichen, dass Deutschland ab 2025 kein CO2 mehr | |
| ausstößt, das die Atmosphäre ständig weiter aufheizt. Die Klimarebellen | |
| haben recht, und trotzdem bleibt Unbehagen zurück. Denn sie skizzieren | |
| keinen Weg, auf dem sich diese Nullemission erreichen ließe. Es würde | |
| nämlich nicht einmal ausreichen, wenn alle Deutschen Vegetarier würden, | |
| ganz auf Flüge verzichteten und keine Autos mehr besäßen. Die | |
| Bundesrepublik würde selbst dann immer noch zu viel CO2 ausstoßen. | |
| Die Klimarebellen sind allerdings nicht allein mit ihrer Ratlosigkeit, | |
| sobald es konkret wird. Die klaffende Lücke zwischen Ist und Muss zeigt | |
| sich auch bei dem klimapolitischen Leitantrag, den die Grünen jetzt | |
| veröffentlicht haben. Das Papier ist radikaler als alles, was bisher | |
| [2][von deutschen Parteien zu hören] war – und bleibt dennoch eine | |
| Luftbuchung, weil es die entscheidenden Fragen meidet. | |
| Die Grünen beginnen mit einer einfachen Rechnung, die vom Weltklimarat IPCC | |
| stammt: Deutschland darf ab 2020 nur noch 6.600 Millionen Tonnen CO2 | |
| ausstoßen, wenn verhindert werden soll, dass die Erdtemperatur um mehr als | |
| zwei Grad steigt. Diese Menge ist schnell verbraucht: Wenn wir ungebremst | |
| weiter leben wie bisher, haben wir das erlaubte CO2 bereits in neun Jahren | |
| in die Luft geblasen. Die Zeit wird also extrem knapp. | |
| Die Grünen fordern daher, dass ab sofort flächendeckend ein CO2-Preis von | |
| 40 Euro pro Tonne gelten soll. 2021 soll er schon bei 60 Euro liegen und | |
| danach weiter steigen. Dieses Konzept ist zweifellos besser als die | |
| GroKo-Beschlüsse, die ab 2021 einen CO2-Preis von nur zehn Euro vorsehen – | |
| was den Dieselpreis um ganze drei Cent erhöhen würde. Ein SUV-Fahrer würde | |
| das gar nicht merken. | |
| ## Ein zentraler Denkfehler | |
| Doch auch der grüne Plan hat einen Haken: Die Einnahmen aus der CO2-Steuer | |
| verschwinden ja nicht im Nichts. Das Geld wird nicht in einen tiefen | |
| Brunnen geworfen und vergammelt dort, sondern es bleibt im System. Die | |
| Bürger müssten zwar tiefer ins Portemonnaie greifen, wenn sie Energie | |
| verbrauchen – aber dieses Geld landet dann beim Staat, der es wieder | |
| ausgeben und damit für neue Nachfrage und neue CO2-Emissionen sorgen würde. | |
| Es würde eine „Kreislaufwirtschaft“ entstehen, die mit einer ökologischen | |
| Postwachstumsökonomie fast nichts zu tun hat. | |
| Der zentrale Denkfehler fällt zunächt gar nicht auf, weil das grüne Konzept | |
| sehr fair wäre: Es soll ein „Energiegeld“ für alle geben. Der Staat würde | |
| seine CO2-Einnahmen wieder an die Bürger auszahlen – als eine Art | |
| Kopfpauschale. Jeder würde dieselbe Summe bekommen. Vor allem die Armen | |
| hätten hinterher mehr Geld als vorher, denn sie verbrauchen besonders wenig | |
| Energie, würden aber genau das gleiche Energiegeld erhalten wie alle | |
| anderen auch. | |
| Es ist längst überfällig, die Armen stärker zu unterstützen. Aber es ist | |
| abwegig, diese soziale Verbesserung als ökologische Revolution zu preisen. | |
| Denn die Armen würden die Zusatzeinnahmen nutzen, um sich endlich | |
| langgehegte Wünsche zu erfüllen. Sie würden auch in Urlaub fahren, auch ins | |
| Restaurant gehen, sich auch neue Kleider gönnen. Dieser Zusatzkonsum wäre | |
| nur gerecht, aber kein Umweltschutzprogramm. Die Grünen verwechseln | |
| Betriebs- und Volkswirtschaft: Ein höherer CO2-Preis hätte zwar | |
| „Lenkungswirkung“ – aber nur beim einzelnen Produkt. Die Gesamtwirtschaft | |
| würde weiter in die Klimakatastrophe gesteuert. | |
| Autokäufer würden Spritfresser zwar meiden und effiziente Fahrzeuge kaufen. | |
| Zunächst würden sie also Energie sparen – ihr Geld dann aber anderweitig | |
| ausgeben. Denkbar wäre etwa, dass man sich für eine zusätzliche Reise nach | |
| Mallorca entscheidet. Nach dem Motto: „Man gönnt sich ja sonst nichts.“ | |
| Flüge würden zwar auch teurer, wenn der CO2-Preis steigt, aber die Bürger | |
| hätten ja noch das Energiegeld, das sie verprassen könnten. In der Summe | |
| würden vielleicht etwas weniger Klimagase emittiert, aber das Ziel ist | |
| bekanntlich ambitionierter: Schon in wenigen Jahren sollen wir gar kein CO2 | |
| mehr ausstoßen. | |
| ## Eine Falle namens Bumerangeffekt | |
| Die Grünen tappen in eine altbekannte Falle, die „Bumerang-Effekt“ heißt: | |
| Dieses Paradox wurde bereits 1865 von dem britischen Ökonomen William | |
| Stanley Jevons beschrieben – und ist eine der wenigen Voraussagen über den | |
| Kapitalismus, die sich als richtig herausgestellt haben. Wer Energie oder | |
| Rohstoffe „spart“ und mit weniger Materialeinsatz die gleiche Gütermenge | |
| herstellt, der steigert in Wahrheit die Produktivität und ermöglicht damit | |
| neues Wachstum. | |
| In der Umweltpolitik hat es daher wenig Sinn, nur auf „Preise“ und | |
| „Marktmechanismen“ zu setzen. Man muss Ordnungspolitik betreiben, also | |
| Vorschriften und Verbote erlassen. Das wissen auch die Grünen. Sie fordern | |
| unter anderen ein Tempolimit von 130 auf der Autobahn und wollen | |
| Ölheizungen sofort untersagen. Diese Vorschläge klingen mutig, würden aber | |
| niemals reichen, damit wir demnächst keine Klimagase mehr emittieren. Auch | |
| ein Auto, das nur 130 Kilometer pro Stunde fährt, ist eine Umweltsünde. | |
| Diese Tatsache verschwiemeln die Grünen, indem sie komplett auf Öko-Strom | |
| umstellen wollen – bei Verkehr, Industrie und Heizung. | |
| Diese Idee klingt nur gut, solange man die offensichtlichen Probleme | |
| verschweigt. Ein E-Auto fährt vielleicht mit Ökostrom, ist aber keineswegs | |
| klimaneutral, sobald auch die Herstellung berücksichtigt wird. Zudem | |
| entsteht Ökostrom nicht aus dem Nichts, sondern produziert ebenfalls | |
| Folgekosten. | |
| Windkrafträder sind zwar längst nicht so schlimm wie Kohlekraftwerke, aber | |
| auch sie greifen in die Landschaft ein und werden bald zu einem | |
| Müllproblem. Denn Windräder laufen nur maximal dreißig Jahre und sind dann | |
| nutzlose Industrieruinen aus 90 Metern Schrott. | |
| Es gibt keine Alternative zum Ökostrom, aber er wird immer knapp und | |
| kostbar bleiben. Bisher wird jedoch der Eindruck erzeugt, als könnte man | |
| Öko-Energie beliebig steigern. Es wird suggeriert, der Umweltschutz wäre | |
| nur eine Finanzierungsfrage, so dass das Wachstum nicht etwa begrenzt – | |
| sondern sogar noch befeuert würde. O-Ton Grüne: „Wirtschaftsstudien sehen | |
| ein Geschäftspotenzial von etwa elf Billionen Euro durch neue, | |
| digital-basierte klimafreundliche Geschäftsmodelle im Jahr 2030. Die | |
| sozial-ökologischen Innovationen in allen Sektoren können Europa zu | |
| deutlich mehr Wohlstand verhelfen.“ | |
| Dieser Optimismus ist Unsinn. Es wird zwar sehr viel Geld kosten, die | |
| Umwelt zu reparieren – aber dies wird kein Wachstum mehr auslösen. Es | |
| reicht schon eine kleine Überschlagsrechnung, um zu erkennen, dass die | |
| [3][Wirtschaftsleistung insgesamt schrumpfen muss]: Momentan tut | |
| Deutschland so, als könnte es anteilig die Erträge von drei Planeten | |
| verbrauchen. Bekanntlich gibt es aber nur die eine Erde. | |
| Noch schlimmer: Dieser Raubbau ist nur eine Momentaufnahme. Selbst niedrige | |
| Wachstumsraten wie 1,7 Prozent pro Jahr kummulieren sich rasant: Schon in | |
| vierzig Jahren hätte sich die Wirtschaftsleistung verdoppelt – und dann | |
| wären sechs Planeten nötig, um den deutschen Verbrauch zu befriedigen. | |
| Natürlich ließe sich das Wachstum ein wenig „entkoppeln“, indem Rohstoffe | |
| noch effizienter eingesetzt würden. Aber dann würden vielleicht „nur“ 4,5 | |
| Erden verbraucht. So bedauerlich es ist: Wachstum ist nicht mehr möglich. | |
| Wenn die Menschheit überleben soll, müssen die Industrieländer ihren | |
| Verbrauch schrumpfen. | |
| ## Orientieren am historischen Schrumpfungsmodell | |
| Dafür gibt es auch ein Modell: die britische Kriegswirtschaft zwischen 1940 | |
| und 1945. Damals standen die Briten vor einer monströsen Herausforderung. | |
| Sie hatten den Zweiten Weltkrieg nicht kommen sehen und mussten nun in | |
| kürzester Zeit ihre Friedenswirtschaft auf den Krieg umstellen, ohne dass | |
| die Bevölkerung hungerte. | |
| Das erste Ergebnis war eine statistische Revolution: Damals entstand die | |
| volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, heute ein Standardwerkzeug aller | |
| Ökonomen. Mit diesem neuen Instrument ließ sich ausrechnen, wieviele | |
| Fabriken man nutzen konnte, um Militärausrüstung herzustellen, ohne die | |
| zivile Versorgung zu gefährden. | |
| Es entstand ein Kapitalismus ohne Markt, der bemerkenswert gut funktioniert | |
| hat. Die Fabriken blieben in privater Hand, aber die Produktionsziele von | |
| Waffen und Konsumgütern wurdenstaatlich vorgegeben – und die Verteilung der | |
| Lebensmittel öffentlich organisiert. Es gab keinen Mangel, aber es wurde | |
| rationiert. | |
| Die staatliche Lenkung war ungemein populär. Wie die britische Regierung | |
| bereits 1941 feststellen konnte, war das Rationierungsprogramm „einer der | |
| größten Erfolge an der Heimatfront“. Denn die verordnete Gleichmacherei | |
| erwies sich als ein Segen: Ausgerechnet im Krieg waren die unteren | |
| Schichten besser versorgt als je zuvor. Zu Friedenszeiten hatte ein Drittel | |
| der Briten nicht genug Kalorien erhalten, weitere zwanzig Prozent waren | |
| zumindest teilweise mangelernährt. Nun, mitten im Krieg, war die | |
| Bevölkerung so gesund wie nie. | |
| Heute herrscht zum Glück Frieden, aber die gesamtgesellschaftliche Aufgabe | |
| ist beim Klimawandel ähnlich groß: Es geht ums Überleben der Menschheit. | |
| 12 Oct 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ulrike Herrmann | |
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