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# taz.de -- Streitgespräch über Klimaaktivismus: „Es ist nicht das maximal …
> Für Clara Mayer von FFF kann es nicht schnell genug gehen mit dem
> Klimaschutz. Der Abgeordnete Georg Kössler muss die Grenzen des Machbaren
> ausloten.
Bild: „Gestikulieren Sie mal!“ Aktivistin und Grüner irgendwo zwischen Uma…
taz: Frau Mayer, Herr Kössler, wir führen seit Jahren die Debatte über
Klimaschutz, aber gerade hat die Zahl der Fluggäste in Berlin schon wieder
ein neues Rekordhoch erklommen. Führen wir nur eine Scheindebatte?
Clara Mayer: Es ist keine Scheindebatte. Ich denke, die Bevölkerung ist
durchaus sehr verängstigt, aber die Politik macht Scheinaktionen. Seit
Monaten werden wir von PolitikerInnen aus großen Teilen des politischen
Spektrums blind gelobt, wie toll wir das machen mit den Freitagsdemos –
aber erst vor wenigen Monaten hat der Bundesrat beschlossen, den Import von
Frackinggas aus dem USA zu erleichtern. In solche Dinge werden dann
Milliarden investiert, und uns AktivistInnen wird gesagt, es sei kein Geld
da, um so richtig in Erneuerbare Energien zu investieren. Das ist eine
Farce. Da haben wir das Gefühl, zu Tode umarmt zu werden, damit niemand
sich ändern muss.
Georg Kössler: Also die Grünen umarmen die Bewegung nicht, denn wer zu sehr
umarmt wird, kann nicht kritisch sein. Und wir brauchen eine kritische
Bewegung. Was die Flüge betrifft: Ich nehme wahr, dass sich die Debatte
schon massiv verschoben hat, auch wenn das noch nicht auf allen politischen
Ebenen angekommen ist. Bei meinen Eltern am Gartenzaun heißt es jetzt
schon: „Wie oft darf ich denn jetzt noch fliegen?“ Also die Frage ist noch
nicht „ob“, aber immerhin „wie oft“. Da eröffnet sich ein Raum, um
politisch mehr durchzusetzen. Für uns heißt das aber auch, sich nach den
ganzen Jahren des Förderns und der Anreize mal Ordnungspolitik zu trauen.
Das müssen ja nicht gleich Verbote sein, auch wenn ein Verbot von
Inlandsflügen mal debattiert werden könnte. Aber es könnte heißen, einen
gerechten CO2-Preis zu setzen oder Inlandsflüge von Berlin aus vielleicht
so zu bepreisen, dass die Menschen mit der Bahn fahren.
Mayer: Das klingt ja alles sehr schön. Aber wie stehen Sie eigentlich dazu,
dass Ihr Bundesprogramm nicht pariskonform ist? Es kann doch nicht sein,
dass ausgerechnet das Programm einer Partei, die sich mit Klima- und
Umweltschutz profiliert, den Kriterien der Pariser Klimakonferenz nicht
entspricht. Das ist doch ein Skandal!
Kössler: Mir ist es auch nicht genug. Wir haben einen Widerspruch zwischen
dem, was die Wissenschaft sagt, und dem, was aktuell technologisch und
politisch möglich ist, und diese Kluft wird leider immer noch größer.
Mayer: Aber Paris ist doch nicht einfach so ein netter Wunschtraum. Das
Klimaabkommen ist die oberste Grenze, unter der wir bleiben müssen, wenn
wir klimatechnisch überhaupt noch was retten wollen.
Kössler: Das ist auch uns völlig klar. Es gibt nur eben zwei Ansätze in der
Politik: zu sagen, was nötig ist, auch wenn man noch nicht weiß, wie man da
hinkommt, oder zu sagen, was möglich ist. Meine Partei war immer darauf
bedacht, das zu fordern, was maximal möglich ist. Was auch Grüne wie mich
frustriert, ist, dass das in puncto Klimaschutz nicht ausreicht.
Mayer: Aber es stimmt ja gar nicht, dass das das maximal Mögliche ist. Wir
werden von tausend WissenschaftlerInnen unterstützt, die sagen, dass wir
noch radikalere Dinge fordern könnten!
Kössler: Ich glaube, die Scientists for Future stimmen mit Fridays for
Future genauso wie ich überein, dass die Ziele richtig sind, und dass
Maßnahmen wie ein CO2-Preis von 180 Euro, wie ihn Fridays for Future
fordert, auch relativ zeitnah umzusetzen sind. Das heißt nicht, dass man
von heute auf morgen alles ohne Zielkonflikte erreichen kann. Man könnte
die Kohlekraftwerke in Berlin sofort ausstellen – aber dann hätte man in
gewissen Gegenden erst mal keine Heizung mehr. Man könnte die ganzen Autos
stehen lassen, dann würden manche Leute aber auch nicht mehr zur Arbeit
kommen. Da sind wir schon bei des Pudels Kern: Wir können das alles gerne
debattieren, aber wir müssen auch klar sagen, was die Zielkonflikte sind.
Da gibt es auch Verliererinnen und Verlierer. Fridays for Future muss das
nicht benennen, aber ich fände es ehrlicher.
Mayer: Dass es die Konflikte gibt, ist ja nicht zu bestreiten. Aber ich
finde es sehr schade, dass es immer diese VerliererInnendebatte gibt, da
habe ich das Gefühl, das ist eher AfD-Niveau. So von wegen: Der Klimaschutz
wird einen Großteil der Bevölkerung total benachteiligen und die arbeitende
Bevölkerung ins Unglück stürzen. Das ist doch kompletter Unsinn. Es gibt so
viele Studien, die zeigen, dass es unserer Wirtschaft auch mit
Klimaschutzmaßnahmen besser gehen wird, dass es auch für Kohlekumpel
Umschulungen gibt, dass es für diese Menschen Beschäftigung gibt. Das
soziale Argument sehe ich als Scheinargument für die Leute, die es im
letzten Jahr nicht geschafft haben, etwas zu verändern.
Dass es der Wirtschaft besser geht, sagen Sie. Um es gleich mal auf die
Spitze zu treiben: Dürfen wir überhaupt noch Wirtschaftswachstum zulassen?
Müsste es aus einer so radikalen Position wie der von Fridays for Future
nicht eher darum gehen, zu schrumpfen?
Mayer: Also erst einmal sind die Positionen von Fridays for Future nicht
radikal, sondern lebensnotwendig. Damit stehen wir gesellschaftlich in der
Mitte. Ich denke, Wachstum muss man anders definieren. Die Frage muss sein,
wie können wir ein fairer, nachhaltiger Staat werden und im Vergleich zu
anderen Ländern dabei Spitzenreiter sein? Die allgemeine Definition von
Wachstum, die wir derzeit haben, ist eine sehr verquere.
Die Grünen haben ihre Wachstumskritik ja irgendwo in den neunziger Jahren
vergessen.
Kössler: Ich will jetzt nicht zu weit in diese Debatte einsteigen, aber ich
persönlich finde, dass wir eine Abkehr vom Wachstum brauchen. Ob das jetzt
eine Postwachstumsökonomie ist oder eine kontrollierte Schrumpfung oder
eine Steady-State-Economy mit minimalem Wachstum. Da identifizieren die
Grünen ja bereits die kleinen Stellschrauben, die schon jetzt möglich sind,
wie die Abkehr vom Bruttoinlandsprodukt als Indikator für Entwicklung. Wir
haben als Grüne auch dank Fridays for Future in den letzten Jahren gemerkt,
dass wir zwar immer noch auf dem richtigen Weg, aber viel zu langsam sind.
Ich ziehe mir die Kritik also nur so halb an. Die Frage ist, wie man das
beschleunigt. Ich bin immer jemand gewesen, der für schnelleres Vorgehen
steht, das Ziel Kohleausstieg 2030 habe ich selber eingebracht und
erstritten. Wenn jetzt aber einige über 2025 reden wollen, sage ich:Wir
müssen jetzt auch mal über Strukturen reden.
Heißt?
Kössler: Zum Beispiel haben wir in Berlin Probleme damit, Solaranlagen auf
öffentliche Dächer zu bauen oder faire Computermäuse für die Verwaltung zu
bestellen, weil die Landeshaushaltsordnung sagt, dass es immer die
billigste Lösung sein muss. Ohne CO2-Preis kommen wir da also nicht weiter.
So was gibt's natürlich auch auf Bundesebene. Auch die Schwarze Null muss
weg.
Sie haben mal gesagt: „Fridays for Future war ein Arschtritt, jetzt ist die
Zeit der Trippelschritte vorbei.“ Wo sind die ausladenden Schritte von
Rot-Rot-Grün?
Kössler: Das meinte ich ja gerade: Wir zögern in Berlin, ein
ambitionierteres Klimaziel auszurufen. Das debattieren wir ja in der
Koalition und teilweise auch öffentlich und auf den Grünen Parteitagen.
Gerade hat die grüne Frauen-Vollversammlung das noch mal beschlossen. Aber
einen Klimanotstand auszurufen und die Zielzahlen anzuerkennen, reicht
nicht, man muss konkret etwas machen. Ich will zum Beispiel auch einen
Klimavorbehalt, der zumindest für alle größeren Gesetze gilt.
Mayer: Dafür sind wir auch.
Kössler: Das haben Sie ja auch in die Debatte gebracht, und das ist super.
Im Übrigen sind Forderungen, wie den Klimaschutz ins Grundgesetz
aufzunehmen, ganz sicher nicht schädlich, auch wenn die CDU das will. Aber
ich habe wirklich Angst, dass der ganze Drive jetzt nur für schöne
Deklarationen genutzt wird, und am Ende laufen wir noch viel tiefer unter
der Latte durch. Da muss mehr kommen.
Mayer: Deswegen ist es ja auch gut, dass wir weiter freitags streiken und
nicht sagen: „Oh, jetzt haben wir die Debatte angestoßen, tschüssi, wir
sehen uns in der Schule.“ Dass wir uns genau anschauen, was ihr da auch in
Reaktion auf uns produziert. Ich finde es gar nicht so gut, dass uns viele
Leute weiterhin nur als Arschtritt verstehen, der das Ganze gestartet hat,
und nicht als echte Interessengruppe, die ein einflussreiches Auge auf die
Politik behält. Am Anfang wurden wir belächelt, wir waren die süßen
Fridays, mit denen man mal posieren kann – das hat ja mittlerweile ein
Ende, auch nach den Ergebnissen der Europawahl. Jetzt werden wir den
Einfluss, den wir als Kinder und Jugendlich haben, weiter nutzen, werden
Regierung und Parteien durchgehend factchecken und nicht zu Hause
herumsitzen.
Kössler: Und das ist großartig. Auch großartig fand ich, dass Fridays for
Future dann konkrete Forderungen auf den Tisch gelegt hat, dass es konkret
wurde, dann die Unterstützung durch Parents for Future, Scientists for
Future, das war alles ideal. Das ist keine Partei, sondern eine Bewegung,
aber die macht jetzt richtig Dampf von der richtigen Seite … Ich als Grüner
will ja Druck bekommen, der ist sonst nämlich relativ gering. Wir waren
lange in der paradoxen Situation, dass sie vielleicht noch nicht das
gefordert haben, was die Wissenschaft heute für unabdingbar hält, aber
trotzdem mehr als die meisten Umwelt-NGOs. Wenn ich an den WWF denke,
Greenpeace oder die Kohlekommission – das war ja alles viel zu wenig. Da
mussten wir uns als Grüne überlegen, ob wir die Öko-NGOs links überholen.
Jetzt gibt es endlich einen Akteur, der sagt: Das und das sagt die
Wissenschaft, und auch ihr müsst euch noch ein bisschen strecken.
Mayer: Genau. Politik wird heute auf der Straße gemacht. Die Parteien sind
heute eigentlich nicht in der Lage etwas zu fordern, was radikaler oder
alternativer ist.
Kössler: Wir haben das punktuell beim Kohleausstieg gesehen, bei den
Klimacamps, die ich auch mitorganisiert habe, bei Ende Gelände. Das hat den
Diskursraum geöffnet, da haben die Grünen dann natürlich auch mitgemacht
und auch die Umweltverbände. Als sich dann die Frage stellte, was als
Nächstes kommt – Bäm! – kam Fridays for Future und sagte: Lasst uns nicht
alle Energieträger einzeln durchgehen, sondern das Thema Klimaschutz
wirklich breit diskutieren.
Mayer: Ja, Fridays for Future hat die Klimakrise und Klimapolitik in einem
viel größeren Zusammenhang aufgegriffen. Vorher war das immer so ein
bisschen Akupunktur-Klimapolitik: Man verbietet hier mal Plastiktüten, man
reduziert da mal Strohhalme, aber es war nie allumfassend. Jetzt denkt man
über einen Klimaschutz nach, der einfach alle Aspekte umfasst.
Kössler: Es soll jetzt keine Entschuldigung sein, aber natürlich haben wir
Grüne das tief im Innern immer gehofft. Ich glaube nicht, dass die Grünen
jetzt radikaler geworden sind, auch nicht die Realos, sie trauen sich aber
jetzt, zu sagen was sie denken.
Mayer: Wobei ich anmerken muss, dass wir trotzdem nicht als Bewegung von
der links-grünen Seite geframt werden wollen. Wir sagen, Klimaschutz ist
ein überparteiliches Thema der Mitte. Deswegen freuen wir uns, dass wir
jetzt zum Beispiel die Initiative Care for Future haben, die an den
Freitagen eine relativ großen Block hat und auch selbst vor der Charité
streikt. Das ist eine Vereinigung von ÄrztInnen und Pflegekräften, die
sagen: Diese Krise ist auch gesundheitlich ein Problem. Leute, die aus der
Mitte der Gesellschaft kommen und sagen: Hört mal, wir mit unserem
Fachwissen sehen, dass wir hier etwas total Schädliches tun. Es ist
unglaublich relevant, dass wir andere Teile der Gesellschaft abholen, die
uns offen unterstützen.
Was stört Sie so am Label „links“?
Mayer: Ich würde mich selber als links und grün bezeichnen, und das ist
eine Einstellung, die ich auch bei anderen gerne sehe. Aber es gibt Leute,
die etwas konservativer drauf sind, die vor dem Thema Klimaschutz
zurückschrecken, wenn es in die links-grüne Ecke gedrängt wird. Und das
Thema muss von allen Seiten gepusht werden.
Sie, Herr Kössler, sind persönlich nun wirklich nah an der Bewegung. Aber
angefangen von den beiden Senatorinnen Ihrer Partei hört man sonst vor
allem Pragmatisches und wenig – jetzt sind wir schon wieder bei dem Wort –
Radikales. Wenn Sie sich die Forderungen der AktivistInnen zueigen machen,
verdreht man da in Fraktionskreisen oder Koalitionsrunden die Augen?
Kössler: Vielleicht, aber dann vor allem mit dem Argument, dass wir doch
genug Baustellen in Berlin haben. Was einerseits stimmt. Andererseits: Das
hier ist die wichtigste Baustelle, und deswegen versuchen wir ja jetzt,
indem wir Fridays for Future zum Ansporn nehmen, die Sachen, die wir eh
schon auf dem Zettel hatten, noch in dieser Legislaturperiode zu machen.
Man guckt ja politisch immer, was machen wir sofort und was sind
mittelfristige Projekte. Und jetzt versuchen wir, ein paar Sachen nach
vorne zu ziehen, etwa die Solarpflicht, die wir beschlossen haben und die
mittlerweile auch die Linken mittragen. Das ist eine kleine Maßnahme, aber
ich hoffe, es ist eine Sache, die wir noch in dieser Legislatur
durchkriegen. Das wäre das erste Mal Ordnungspolitik, etwas Handfestes.
Dabei geht es um die verpflichtende Ausstattung von Neubauten mit
Photovoltaik oder Solarthermie. Ist das nicht viel zu wenig, nur im Neubau?
Kössler: Ich würde das auch gerne im Bestand haben.
Mayer: Wir plädieren immer dafür, die Energieversorgung lokal zu regeln.
Beim weit entfernt gelegenen Kohlekraftwerk ist es viel einfacher zu sagen,
das interessiert mich nicht. Für eine Anlage vor Ort ist man selbst
verantwortlich, moralisch und auch einfach als Anwohner. Da wählt man dann
einfach die klimafreundlichere Methode.
Gerade wurde die Machbarkeitsstudie präsentiert, die einen möglichen
Kohleausstieg durch Vattenfall bis 2030 vorzeichnet. Wie jetzt klar wurde,
bedeutet das aber erst mal den Umstieg auf einen lediglich etwas weniger
klimaschädlichen fossilen Energieträger, nämlich Erdgas. Geht so
rot-rot-grüne Politik? Man will ganz viel und bekommt dann nur ein
bisschen?
Kössler: Bislang liegen ja nur die Eckpunkte der Studie vor, insofern sage
ich es mit einem gewissen Vorbehalt – aber für mich war das einer der
bislang ernüchterndsten Momente als in die Politik gegangener
Klimaaktivist. Wir haben die Ressorts, wir haben die Beschlüsse –
Kohleausstieg bis 2030 –, wir haben eine gute Wirtschaftslage und mit
Vattenfall sogar einen Energieversorger, der nicht mehr ganz so schlimm ist
wie früher. Immerhin sagen sie, sie machen da mit. Die Ausgangslage hätte
also wirklich schlechter sein können. Trotzdem werden wir jetzt wohl die
Brücke Erdgas, die wir umgehen wollten, benötigen. Das ist wahnsinnig
frustrierend. Was ich gut finde, sind zwei Schalthebel, die Regine Günther
da reingebracht hat: einmal Power-to-Heat, sprich: Wenn genug Strom aus
Erneuerbaren im Netz ist, wird mit dem Überschuss Wärme erzeugt und das
Graskraftwerk abgeschaltet. Das zweite ist die Absenkung der Temperatur im
Fernwärmenetz. Das, gepaart mit einer Solarpflicht, wird mehr dezentrale
Solarthermie bedeuten. Ich will, dass das Gaskraftwerk so selten läuft wie
möglich, auch wenn Vattenfall das nicht so gerne hören wird.
Frau Mayer, wie sehen Sie die Zukunft Ihrer Bewegung? Irgendwann kommt doch
der Punkt, wo man das Engagement in festere Strukturen überführen muss,
dann wird ein Verein gegründet oder eine Partei, dann steigen die ersten
aus …
Mayer: Also gerade kommen immer noch ganz viele dazu. Das liegt vor allem
daran, dass große Teile der Gesellschaft Fridays for Future erst langsam
als etwas wahrnehmen, an dem sie teilhaben können. Dass wir mal eine Partei
oder ein Verein werden, hoffe ich nicht. Weil wir ja gerade das so
frustrierend finden, dass die Parteien und Organisationen nicht so
pariskonform gehandelt haben, wie es wissenschaftlich und moralisch nötig
gewesen wäre. Ich hoffe, wir bleiben, wie wir sind, dann haben wir die
meiste Power.
Herr Kössler, Sie haben genickt, wünschen Sie sich nicht, dass die ganzen
AktivistInnen bei den Grünen eintreten und den Laden aufmischen?
Kössler: (lacht) Um Gottes Willen! Nein, ich will, dass die auch in die
anderen Parteien gehen und in die Breite wirken. Der Punkt ist doch: Der
berühmte Grünen-Slogan „Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geborgt�…
war ein moralischer Appell von Erwachsenen an Erwachsene, und mit Fridays
for Future sind jetzt endlich diese Kinder selber da und sagen: Hier sind
wir. Das muss und soll gar nicht in Parteistrukturen aufgehen, denn eine
Partei macht auch älter, das sieht man ja bei mir.
Mayer: Ich finde an Fridays for Future faszinierend, wie sich Leute daran
total verändert haben, das habe ich bei mir und bei anderen beobachtet. Da
kommen 12-Jährige, die eine Doku über Eisbären gesehen haben und sagen: Ich
will nicht, dass die sterben! Und ein halbes Jahr später können die einem
auseinanderfriemeln, wo es in Deutschland und global beim Klimaschutz hakt.
Wir hören jetzt ständig Aussagen wie „Es gibt nur noch wenige Monate zum
Handeln, sonst ist es zu spät.“ Wie lange kann man mit der Apokalypse
drohen, ohne dass es unglaubwürdig wird?
Mayer: Aber es ist wirklich so! Ich arbeite in einem Krankenhaus. Wenn da
ein Patient mit starken Blutungen kommt, sagen wir: Wir müssen ganz schnell
handeln, sonst ist es zu spät. Und wenn der Patient sich weigert oder sonst
etwas dazwischenkommt, versuchen wir natürlich auch noch 15 Minuten später
einzugreifen. Obwohl wir wissen, dass es eigentlich zu spät ist. Null
Prozent Chancen haben wir nur, wenn wir gar nicht handeln. Für das Klima
ist es in drei Jahren wirklich zu spät, deshalb brauchen wir jetzt jeden
auf der Straße.
Kössler: Ich glaube, wir hätten vor einigen Jahrzehnten die Chance gehabt,
Klimaschutz als reines Win-Win zu machen. Massive Investitionen in
Erneuerbare Energien, tolle neue Jobs, am Ende geht es allen noch besser.
Inzwischen sind wir an einem Punkt, wo es Zielkonflikte und
Verteilungsfragen gibt. Natürlich gibt es auch noch ganz viele Chancen,
aber ja, wir werden Leuten etwas wegnehmen. Ich würde es gerne denen
wegnehmen, bei denen ein Großteil des Vermögens liegt.
Ist so eine Aussage in Ihrer Fraktion mehrheitsfähig?
Kössler: Ja. Die, die mehr leisten können, müssen das beim Klimaschutz auch
tun. Und ich glaube, dass Umverteilung sein muss und man das auch begründen
kann. Man muss es halt gut machen. Eine Vermögenssteuer, eine gerechtere
Einkommenssteuer, eine starke Erbschaftssteuer, alle würden der
Gemeinschaft viel Geld bringen, und sie sind mehrheitsfähig in diesem Land.
Die soziale Frage wird man nicht über Klimapolitik lösen können, sondern
über gerechtere Steuer- und Sozialpolitik. Wenn wir warten, rennen wir in
ein System hinein, das vielleicht nicht mehr demokratisch zu organisieren
ist. Ich habe Angst, dass auch Rechtspopulisten dann merken, dass
Klimaschutz Sinn macht, und totalitäre Konzepte entwickeln. Das könnte
schon in zehn Jahren der Fall sein.
Mayer: Fridays for Future betont immer, dass Klimagerechtigkeit ohne
soziale Gerechtigkeit nicht zu erreichen ist.
Kössler: Ja, zu Recht, und es sollte es einer der Punkte sein, der in den
nächsten Jahren noch weiterentwickelt wird. Dass Themen wie
Steuergerechtigkeit und Klimaschutz mehr miteinander verwoben werden, so
wir jetzt schon Feminismus und Klimaschutz. Vielleicht legen Fridays for
Future dann auch mal steuerpolitische Forderungen vor.
Ist es eigentlich nicht frustrierend sich vorzustellen, dass es weltweit
überhaupt keinen Unterschied macht, ob wir uns hier in Berlin
klimaschutzmäßig auf den Kopf stellen?
Mayer: Natürlich muss man das global sehen. Zu sagen, das kleine Berlin
muss jetzt die Welt retten, macht wirklich keinen Sinn. Aber: Berlin ist
eine moderne, hippe und international sehr beliebte Stadt. Wenn Berlin beim
Klimaschutz den Vorreiter macht, werden viele Städte versuchen, da
nachzuziehen. Der Aspekt der Klimaneutralität ist einfach auch ein
Statussymbol geworden, und ich finde es überhaupt nicht schlimm, wenn alle
das haben wollen.
19 Sep 2019
## AUTOREN
Claudius Prößer
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Grüne Berlin
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