# taz.de -- Autobiografie von Edward Snowden: Der achte Harry Potter | |
> Mit nur 36 Jahren verteidigt Edward Snowden sein Lebenswerk: die | |
> Enthüllung der US-Massenüberwachung. Sein Buch ist aber auch ein | |
> Versprechen. | |
Bild: Snowden 2016 bei einem seiner vielen Auftritte per Videoschalte | |
Gut oder böse, wahr oder falsch, schweigen oder reden. Egal in welchen | |
Ambivalenzen, Unwägbarkeiten und Zufällen ein Leben verläuft, für jeden | |
Menschen verengt sich in bestimmten Momenten der Möglichkeitsraum auf ein | |
einfaches Ja oder Nein. Null oder eins. In den seltensten Fällen haben die | |
dann getroffenen Entscheidungen eine so große Tragweite wie die des | |
Whistleblowers und früheren NSA- und CIA-Mitarbeiters Edward Snowden. Sein | |
Entschluss, Informationen über die ungeheuren Überwachungsprogramme der | |
US-amerikanischen Geheimdienste an Journalist*innen zu übergeben, | |
veränderte vor inzwischen sechs Jahren weltweit die Diskussion über | |
Privatsphäre, digitale Sicherheit, Moral und Politik. | |
Was bis dahin nur in kleinsten Auszügen überhaupt belegbar war und deshalb | |
eher den Charakter von Gerüchten und Spinnereien notorischer Paranoiker | |
hatte, war auf einmal Gewissheit geworden: Geheimdienste haben die | |
Möglichkeit, jede digitale Kommunikation, jeden Klick, jedes Handyfoto, | |
jedes Telefonat auf dieser Welt mitzuschneiden und zu speichern – und sie | |
nutzen sie auch. | |
Ein großer Teil der enthüllten Programme war selbst nach den äußerst weit | |
gefassten Gesetzen zur Terrorbekämpfung grundsätzlich illegal, der Rest | |
zumindest in der konkreten Ausführung. Insofern war die Berichterstattung | |
ein Dienst an der Öffentlichkeit der westlichen Demokratien. In der gerade | |
erschienenen Autobiografie Snowdens, die schon im Titel „Permanent Record“ | |
auf das ewige, nicht hintergehbare digitale Gedächtnis anspielt, beschreibt | |
der Autor die Aufklärung über den fortgesetzten Rechtsbruch als Erfüllung | |
seines Diensteids. | |
Den hatte er schließlich nicht auf die Geheimdienste oder die Regierung, | |
sondern auf die Verfassung seines Landes abgelegt. Wie Snowden sowohl in | |
seinem Buch als auch auf der aktuellen Ochsentour durch Talkshows und | |
Zeitungsinterviews – wie immer in den vergangenen sechs Jahren nur von | |
Bildschirmen lächelnd – nicht müde wird zu betonen, würde ihm diese | |
Verteidigung nach aktuellem Stand vor US-Gerichten aber verwehrt bleiben. | |
Denn der Vorwurf gegen ihn lautet, verbotenerweise streng geheime | |
Unterlagen an Unbefugte weitergegeben zu haben. Dieser völlig unbestrittene | |
Vorgang ist der einzige, der bei einem Verfahren vor Gericht | |
Berücksichtigung fände. Dass diese Unterlagen schwere Verstöße gegen Recht | |
und Gesetz belegen und ausschließlich deshalb von Snowden weitergegeben | |
wurden, um die Verletzung elementarster Bürgerrechte zu beweisen, dürfte | |
keinen Anteil der Urteilsfindung ausmachen. | |
## Strikte Auslegung der Freiheit | |
Dieses Verbot, vor Gericht zu seiner Verteidigung das Motiv für die Tat | |
darzulegen, lässt Snowden weiterhin keine Wahl, als im unfreiwilligen Exil | |
in Russland zu verbleiben. Der Weg nach Moskau, so unwahrscheinlich er | |
rückblickend für die Biografie des Jungen aus geordneten Verhältnissen | |
einer Familie von Staatsbediensteten erscheinen mag, wird in „Permanent | |
Record“ als fast zwangsläufige Aneinanderreihung schicksalhafter Stationen | |
beschrieben. | |
Die überaus durchdachte, dramaturgisch saubere literarische Konstruktion | |
seines Werdegangs liest sich plausibel, lässt aber zwangsläufig die | |
Möglichkeit eines anderen Verlaufs weitestgehend außer acht. Null oder | |
eins. Die ausgewählten Anekdoten selber illustrieren recht vorhersehbar den | |
ziemlich geraden Weg der Gewissensbildung Snowdens. Er selbst räumt eine | |
andere Schwäche des Genres Autobiografie ein: ihr statisches Bild eines | |
Lebens, das doch weitergeht. Er kommt zu dem Schluss, dass sein Buch ein | |
Versprechen ist, den eigenen Prinzipien treu bleiben zu wollen. „Permanent | |
Record“ ist natürlich viel mehr als das. Es ist unter anderem eine | |
Aufforderung, sich mit diesen Prinzipien auseinanderzusetzen. Es ist eine | |
nachdrückliche Verteidigung demokratischer und freiheitlicher Werte, die | |
Snowden außerordentlich strikt auslegt. | |
Genau da, wo er entlang seiner libertären, vielen progressiven | |
Vordenker*innen der Hackerszene nahestehenden Grundsätze argumentiert, | |
weckt er Lust, in Diskussion zu treten, zu hinterfragen, zu zweifeln. Nicht | |
an seiner ehrenwerten Motivation, nicht an seinen Entscheidungen. „Der | |
einzige Maßstab für die Freiheit eines Landes ist die Achtung vor den | |
Rechten seiner Bürger“, schreibt Snowden. „Wirklich der einzige?“, möch… | |
man fragen, nur um sich daran zu erinnern, dass genau diese absolute | |
Weltsicht des „Wahr oder Falsch“ Edward Snowden die Kraft für seinen | |
außergewöhnlichen Schritt gegeben hat. | |
„Permanent Record“ – allein der Titel ist neben einer griffigen Formel f�… | |
die Bedrohung durch die unsägliche Massenüberwachung auch ein individuelles | |
Versprechen, das auch eine Absicht verrät. Das Buch soll die verbindliche | |
Lebensgeschichte eines mit 36 Jahren recht jungen Mannes sein, der sich | |
noch auf Jahrzehnte moralisch, politisch und gegebenenfalls auch juristisch | |
für die Preisgabe sensibelster Staatsgeheimnisse wird rechtfertigen müssen. | |
Dass er dabei für die US-amerikanischen Dienste eine hart zu knackende Nuss | |
bleibt, ist offensichtlich. Mit all ihren Ressourcen ist es ihnen bislang | |
nicht gelungen, die Person Snowden nachhaltig zu diskreditieren. | |
Der Mann ist einfach der perfekte Whistleblower. Ein völlig unauffälliges | |
Leben, anscheinend ohne finstere Geheimnisse, ein durch die Umstände | |
selbstlos zum Heldentum getriebener. Dass Snowden sich auch selbst so | |
sieht, ist offensichtlich. Seine Interviewauftritte rund um die | |
Veröffentlichung unterstreichen die im Buch durchscheinende | |
sympathisch-spröde Persönlichkeit, die noch über semantische Feinheiten | |
diskutiert, [1][ob eine Person tatsächlich „Held“ zu nennen wäre, nur weg… | |
einer Tat, die man als „heldenhaft“] apostrophieren könnte. | |
Edward Snowden, der wohl für lange Zeit in Ungewissheit darüber wird leben | |
müssen, ob er in Freiheit oder hinter Gittern sterben wird, wäre dumm | |
gewesen, dieses Bild des bedachten, prinzipientreuen Helden wider Willen | |
mit nebensächlichen Anekdoten ins Wanken zu bringen. Und so erzählt sein | |
Buch wie ein unverhoffter achter Harry-Potter-Band die Geschichte eines | |
Menschen, der über sich hinauswächst, der die eigene Angst und | |
Bequemlichkeit besiegen muss und dem Bösen einen Namen gibt. | |
Die Familiengeschichte reicht bis zurück in die Zeiten der Amerikanischen | |
Revolution, ja bis zu den ersten puritanischen Siedlern. Der | |
Widerspruchsgeist des jungen Eddie wird früh geweckt. Sein Faible für | |
Hacks, für die geschickte Auslegung fester Regeln findet schon im | |
Kindesalter Förderung. Als Teil der letzten Generation, die im Westen noch | |
eine Erinnerung hat an die Zeit vor allgegenwärtigen Computern, Internet | |
und Smartphones, ist er doch jung und begabt genug, um die dahinterstehende | |
Magie flüssig zu beherrschen. Ihre Gefahren erkennt er früh, die Gewissheit | |
über die systematische Verletzung elementarster Rechte erst später. Nicht | |
zu spät, denn er ist bereit, das unglaubliche gegen den übermächtigen Feind | |
zu wagen. | |
## Wie ein Agentenkrimi | |
Sein Vermögen, das für die Geschichte nötige Minimum an technischen und | |
mathematischen Details in für Laien verständliche Sprache zu übersetzen, | |
ist offensichtlich geschult am inzwischen jahrelangen Umgang mit | |
Journalist*innen und anderen Laien. „Permanent Record“ gibt dazu einen | |
interessanten Einblick in die Rekrutierungspraxis der Geheimdienste und die | |
zutiefst korrupten Verschlingungen zwischen den Diensten und privaten | |
Konzernen. | |
Vor allem die finalen Kapitel des Buches lesen sich außerdem wie ein | |
klassischer Agentenkrimi. Zweifel an Snowdens Sachdarstellungen lassen sich | |
wenigstens zum Teil mit der Tatsache ausräumen, dass die amerikanische | |
Regierung seit 2013, dem Jahr der Enthüllungen, kein qualifiziertes Dementi | |
vorbringen konnte und stattdessen jetzt Snowdens Verlag auf die Einnahmen | |
aus dem Buch verklagt. Der Whistleblower hat es versäumt, den in der | |
Branche üblichen Dienstweg zu gehen, und das Manuskript dem früheren | |
Dienstherren nicht zur Vorzensur vorgelegt. Eine Frage des Prinzips, möchte | |
man meinen: null oder eins, schweigen oder reden. | |
Edward Snowden hat sich entschieden und das wird ihm niemand mehr nehmen | |
können. Was der Rest der Welt aus den so gewonnenen Informationen macht, | |
liegt nicht in seiner Hand. Bedauern wird er das kaum. Denn mit so vielen | |
Heldentaten,die jetzt nötig wären, möchte ganz bestimmt niemand alleine | |
sein. | |
30 Sep 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Der-Fall-Edward-Snowden/!5624832 | |
## AUTOREN | |
Daniél Kretschmar | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Überwachung | |
Edward Snowden | |
NSA | |
Geheimdienst | |
Film | |
Schwerpunkt Überwachung | |
Microsoft | |
Edward Snowden | |
Edward Snowden | |
Schwerpunkt Überwachung | |
Julian Assange | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Neue Filme von Laura Poitras: Totaler Kontrollverlust | |
Im Neuen Berliner Kunstverein zeigt Laura Poitras neue Arbeiten. | |
Schockierend ist das Anwenden von Spyware gegenüber | |
Menschenrechtler:innen. | |
Buch-Tantiemen von Edward Snowden: Geheimdienste treten nach | |
Whistleblower Edward Snowden soll alle Einnahmen seiner Memoiren an die | |
US-Regierung abgeben. Ein Bezirksgericht gab ihrer Klage recht. | |
NSA meldet Windows-Sicherheitslücke: Big Brother hilft Microsoft | |
Ein US-amerikanischer Geheimdienst findet eine Windows-Sicherheitslücke und | |
informiert Microsoft. Das könnte Teil einer neuen Strategie sein. | |
Rechtsstreit um Snowdens Memoiren: Leg dich nicht mit der NSA an | |
Edward Snowden hat mit seinen Memoiren „Permanent Record“ gegen | |
CIA-Verträge verstoßen, urteilte ein US-Gericht. Das ist schäbige Rache. | |
Der Fall Edward Snowden: Braucht es heldenhafte Menschen? | |
Weil Whistleblower Snowden seine Angst überwand, wissen wir mehr über das | |
System weltumspannender Überwachung. Ist er deswegen ein Held? | |
NSA will Datensammlung beenden: Ein bisschen ausgehorcht | |
Dass der US-Geheimdienst die Vorratsdatenspeicherung in den USA nicht mehr | |
zu brauchen scheint, ist neu. Die restliche Überwachung läuft weiter. | |
Whistleblower Ellsberg zu Julian Assange: „Für journalistische Arbeit angekl… | |
Whistleblower Daniel Ellsberg glaubt, dass der Fall Assange in Verbindung | |
steht mit den Eskalationen des US-Präsidenten gegen die Presse. |