Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Präsidentschaftswahl in Tunesien: „Wir warten auf Antworten“
> Tunesien wählt einen neuen Präsidenten, zum zweiten Mal seit dem
> Arabischen Frühling. Dabei geht es auch um die Zukunft des politischen
> Systems.
Bild: Den Einwohnern wichtiger als die Verwaltungsreform: der „Friedhof der U…
Zarzis taz | Mekki Layaredh ist erleichtert. Endlich kann er mal über seine
Verwaltungsreform sprechen und nicht über den Friedhof. Seit einem Jahr ist
der drahtige 50-Jährige Bürgermeister der südtunesischen Stadt Zarzis. Aus
der von der Diktatur geprägten Stadtverwaltung will Layaredh eine Art
Bürgerbüro machen. In den Schlagzeilen ist die 80.000-Einwohner-Stadt am
Mittelmeer aber nicht mit der Verwaltungsreform, sondern mit einem anderen
Thema: der Migration und dem Friedhof der Unbekannten.
Immer wieder werden Leichen an den weißen Sandstränden südlich von Djerba
angespült, tote Flüchtlinge, von denen die meisten wohl in Libyen gestartet
sind. Als eine belgische Touristin kürzlich beim Baden auf eine
Wasserleiche stieß, kamen Journalisten aus der ganzen Welt. Alle wollten
den Ort sehen, an dem die Namenlosen beerdigt werden.
Layaredh verdreht die Augen. Von seinen Reformen würden weder die Bewohner
noch die internationalen Journalisten etwas wissen wollen. „Uns läuft die
Zeit genauso davon wie die Bewohner“, sagt er. Mit beiden Händen zählt er
die für eine Gemeindeverwaltung „unlösbaren Probleme“ auf:
Wirtschaftskrise, Krieg im Nachbarland Libyen, Jugendarbeitslosigkeit und
Korruption, Streiks, Drogen und so weiter. „In Tunis wird viel geredet,
aber nicht gehandelt.“
Am Sonntag wählen die Tunesier einen neuen Präsidenten, [1][zum zweiten Mal
seit den Umbrüchen] des Arabischen Frühlings 2011. Tunesien gilt als
einziges Land, das nach der Revolution eine demokratische Entwicklung
genommen hat. Insgesamt 26 Kandidaten bewerben sich um die Nachfolge des
säkularen Caid Essebsi, der Ende Juli mit 92 Jahren starb. Wenn keiner von
ihnen mehr als 50 Prozent erreicht, gibt es eine Stichwahl.
## Die Wahl interessiert in Zarzis nur wenige
Dabei geht es um Grundlegendes: Mehrere Kandidaten sprechen sich offen
dafür aus, das politische System zu ändern. In drei Wochen findet auch die
Neuwahl des Parlaments statt. Für die gesamte Region – für den Krieg in
Libyen und die Bürgerproteste in Algerien – wird entscheidend sein, ob
sich religiöse Kräfte, Vertreter des ehemaligen Regimes oder Populisten
durchsetzen.
Eigentlich interessiert die Präsidentenwahl in Zarzis, fernab der
Hauptstadt, nur wenige. Dennoch waren die Cafés in den vergangenen Tagen
voll wie während der Fußball-WM. [2][Erstmals in der arabischen Welt
stellten sich die Kandidaten im Fernsehen der Öffentlichkeit vor]. Dass
Politiker auch über die Probleme der tunesischen Provinz sprachen, konnten
viele kaum glauben. Bis vor Kurzem war so etwas wie der Klimawandel, der
den trockenen Süden besonders trifft, für die Elite in Tunis kein Thema.
Im Café Brooklyn führt der neue Tonfall zu einer Diskussion. „Wir brauchen
wieder einen starken Staat“, sagt ein Gast. Ein anderer erwidert, der Staat
sei doch nur der Polizist, der Autos anhält, um sie gegen Schmiergeld
wieder fahren zu lassen. Oder der Lehrer, der den Schülern gute Zensuren
nur gegen bezahlte Nachhilfe gebe.
„Wir warten seit Jahren auf Antworten auf unsere Probleme“, sagt
Bürgermeister Layaredh in seinem Büro. „Die Gemeinde Zarzis ist der größte
Olivenproduzent im Land, der Wassermangel wird jedes Jahr ein größeres
Thema, aber nichts passiert.“ Über 6.000 Männer aus Zarzis hätten sich seit
der Revolution 2011, als die Tunesier ihren Langzeitherrscher Zine
el-Abidine Ben Ali stürzten, auf den Weg nach Italien gemacht, sagt
Layaredh. Auch wenn sie in der EU keine Chance auf Asyl haben, mit einer
illegalen Beschäftigung in einem Restaurant oder einer Spedition in Europa
verdient man das Zigfache der umgerechnet 200 Euro im Monat, die ein Ober
in einem der Hotels in Zarzis bekommt.
## Die Geschichte mit Gegeständen festhalten
Mittlerweile finde ein regelrechter Bevölkerungsaustausch statt, sagt eine
Verkäuferin auf dem Markt in Zarzis, ein paar Kilometer von den
All-Inclusive-Hotels entfernt. „Migranten kommen aus Libyen und Westafrika
und unsere Jugend geht.“ Touristen sieht man in Zarzis kaum, sie bleiben
hinter den hohen Mauern der Hotelbunker.
Am kilometerlangen Strand von Zarzis trifft man – wie jeden Nachmittag –
auf den stadtbekannten Lebenskünstler Mohsen Lihidheb. Anstatt in den Cafés
über die Krise zu lamentieren, gehe er lieber hierher, erzählt der
55-Jährige. Er sammelt Strandgut, Rettungswesten und Plastikflaschen aus
aller Welt, um sie in seinem Haus und Garten zu stapeln. Mit der Anzahl der
Fundstücke hat Lihidheb es sogar in das Guinness-Buch der Rekorde
geschafft. „Ich versuche, die Geschichte der Stadt mit Gegenständen
festzuhalten“, sagt er. „Das Hauptthema hier ist das Kommen und Gehen. Die
Menschen verlassen ihre Heimat, weil sie keine Zukunft sehen.“ Lihidheb
aber will bleiben – wegen der Schönheit der Natur.
Seine beiden Söhne hat er vor zwei Jahren aufgefordert, nach Paris zu
gehen. „Damit sie nicht verblöden“, sagt er lachend. „Alle, die nach Eur…
ausgewandert sind, können und wollen arbeiten und etwas erreichen. Sie
kommen irgendwann bestimmt zurück.“ In Paris gibt es mittlerweile ein
kleines zweites Zarzis. „An der tunesischen Botschaft werden am Sonntag
vielleicht mehr Stimmen abgegeben als hier“, sagt Lihidheb. Auf 20.000
Menschen belaufe sich die Exilgemeinde aus Zarzis im Großraum Paris,
schätzt Bürgermeister Layaredh.
Der Sammler Lihidheb macht die ausgebliebene kulturelle Revolution
verantwortlich für die Probleme von Zarzis. Die Ignoranz der französischen
Kolonialherrscher und der Elite in Tunis habe weite Teile Tunesiens in
einem unvollendeten Reformprozess belassen, sagt er. „Die Rückständigkeit
hat eine gesellschaftliche Enge zur Folge, einen Konservatismus, aus dem
die jungen Leute ausbrechen wollen. Denn auf Facebook haben sie Zugang zu
einer ganz anderen Welt.“
## Sympathie für den Medienmogul
Während immer mehr Tunesier Zarzis verlassen, haben Migranten aus West-
oder Zentralafrika viele Handwerkerjobs in den Touristenhotels der Stadt
übernommen. Mehr als ein Dutzend Afrikaner kommt täglich über die rund 100
Kilometer entfernte libysche Grenze nach Zarzis. Einen tunesischen
Handwerker zu finden sei kaum noch möglich, sagt Lihidheb.
Im Café Brooklyn hegt man unterdessen für einen Kandidaten große
Sympathien, der in der TV-Debatte fehlt: Seit Ende August sitzt der
Medienmogul Nabil Karoui wegen Korruptionsverdachts im Gefängnis. Noch hat
die Staatsanwaltschaft keine Beweise gegen Karoui vorgelegt. Die Macher der
TV-Debatte sagen, sein Wahlkampfteam habe nicht auf die Einladung reagiert,
man hätte Karoui sonst telefonisch aus der Gefängniszelle zu der Diskussion
zuschalten können.
Mit Geldspenden und Eigenwerbung in seinem TV-Sender Nessma hat sich der
Geschäftsmann geschickt als Feind der Eliten und Opfer der Justiz
positioniert. Im Café Brooklyn sind sie sich sicher, dass Karouis
spektakuläre Verhaftung durch eine Anti-Terror-Einheit ein politischer
Schachzug des „alten Systems“ war. Am Donnerstag trat Karoui im Gefängnis
in einen Hungerstreik. Einer seiner Verteidiger erklärte via Facebook, dass
Karoui auf sein Recht bestehe, am Sonntag wählen zu gehen, berichteten
tunesische Medien.
Karoui liegt in den Umfragen weit vorne und könnte es in die Stichwahl
schaffen. Wählt Tunesien möglicherweise einen Präsidenten hinter Gittern?
Viele sitzen in Tunesien unschuldig im Gefängnis, sagen sie im Café
Brooklyn. „Die Menschen in Zarzis suchen nach einer Identität und nach
jemandem, der sie gegen den reichen Nordwesten vertritt“, sagt Lihidheb.
Als der Sammler am Abend einen letzten Strandrundgang macht, sitzt
Bürgermeister Mekki Layaredh immer noch an seinem Schreibtisch über seiner
Verwaltungsreform. „Die Übergangsphase, durch die wir in Tunesien gehen,
ist ein Nährboden für Populismus jeder Art“, sagt er. „Ich sage den jungen
Leuten, die weggehen wollen, dass Veränderung Arbeit und Zeit benötigt.
Doch sie wollen jetzt ein besseres Leben, nicht erst in zehn Jahren.“
14 Sep 2019
## LINKS
[1] /Tunesien-vor-der-Wahl/!5619089
[2] /Wahl-in-Tunesien/!5621254
## AUTOREN
Mirco Keilberth
## TAGS
Wahlen in Tunesien
Tunesien
Zehn Jahre Arabischer Frühling
Lesestück Recherche und Reportage
Islamismus
Wahlen in Tunesien
Tunesien
Wahlen in Tunesien
TV-Duell
Wahlen in Tunesien
Islamismus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Tunesien nach den Wahlen: Ein fragiler sozialer Frieden
Die moderaten Islamisten der Ennahda-Partei sind als stärkste Kraft aus
den Wahlen hervorgegangen. Das Problem: Das Land ist tief gespalten.
Präsidentschaftswahl in Tunesien: Mit starken Parolen gewinnen
Ein Ultrakonservativer und ein in U-Haft sitzender Medienmogul gehen in die
Stichwahl. Das zeigt: Die Tunesier sind von der Demokratie enttäuscht.
Präsidentschaftswahl in Tunesien: Außenseiter in der Stichwahl
Die etablierten Kandidaten wurden abgewählt. Ein inhaftiertes Unternehmer
und ein Verfassungsrechtler gehen in die Stichwahl.
Präsidentschaftswahl in Tunesien: Ausgang vollkommen offen
Nach dem Tod des Präsidenten Béji Caïd Essebsi wählt Tunesien ein neues
Staatsoberhaupt. Die Wahl ist offen wie nie – birgt aber auch Risiken.
Wahl in Tunesien: Endlich im Fernsehen
Kurz vor der Präsidentschaftswahl in Tunesien erlebt das Land seine erste
TV-Debatte. Für die arabische Welt ist das ein Novum.
Tunesien vor der Wahl: „Ich verstehe die Angst nicht“
Ein Islamist will Präsident von Tunesien werden. Was Abdelfattah Mourou
verändern will und warum seine Partei am demokratischen Prozess teilnimmt.
Tunesien vor der Wahl: Neue Grabenkämpfe in Sicht
Erst Präsidentschafts-, dann Parlamentswahl: In Tunesien könnten die
gemäßigten Islamisten der Ennahda ihren Einfluss ausbauen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.