| # taz.de -- Präsidentschaftswahl in Tunesien: Außenseiter in der Stichwahl | |
| > Die etablierten Kandidaten wurden abgewählt. Ein inhaftiertes Unternehmer | |
| > und ein Verfassungsrechtler gehen in die Stichwahl. | |
| Bild: Tanzende Fans feiern den zweitplatzierten Kandidaten Nabil Karoui | |
| Tunis taz | Im Büro des Kampagnenteams von Kaïs Saïed lässt am Sonntagabend | |
| nichts darauf schließen, dass hier der womöglich zukünftige Präsident | |
| Tunesiens seinen Wahlkampf organisiert hat. Sein leerer Schreibtisch hat | |
| die besten Jahre hinter sich, ein Dutzend Freiwillige sitzen im Nebenraum | |
| auf alten Plastikstühlen und starren auf die ersten Hochrechnungen auf dem | |
| TV-Bildschirm. | |
| „Ich weiß gar nicht, wie groß mein Unterstützerteam ist, da wir mit | |
| Aktivisten im ganzen Land lose organisiert arbeiten und das seit zehn | |
| Jahren, also bevor es überhaupt freie Wahlen gab“, sagt der auf sozialen | |
| Medien „Roboter“ genannte Professor für öffentliches Recht. Saïed spricht | |
| langsam und überlegt, ohne jegliche Mimik und auf Hocharabisch. Nach | |
| [1][der ersten TV-Debatte] waren seine sowieso schon guten Umfragewerte zur | |
| Verwunderung aller Experten weiter in die Höhe geschnellt. Anders als die | |
| von PR-Beratern betreuten anderen Kandidaten erreicht der schlanke ältere | |
| Herr mit seiner Art die Stimmung der Tunesier. | |
| Seine Botschaft war immer klar und ohne Hass „auf die anderen“, betont | |
| Saïed. „Die Tunesier wollen endlich eine ganz andere Form von Politik, weg | |
| von Korruption, hin zu einem Rechtsstaat. Schon seit Jahrzehnten erhalten | |
| die Bürger doch keine Antworten auf ihre alltäglichen Nöte.“ | |
| Da ertönt aus dem Nebenraum plötzlich ein Jubelschrei: In den ersten | |
| Ergebnissen [2][liegt Kaïs Saïed auf Platz eins]. Eine Mitarbeiterin stürmt | |
| in sein Büro und umarmt ihn weinend, andere folgen. Der Professor bleibt | |
| gefasst. „Hätten die Wahlen jetzt nicht stattgefunden, wären wir weiter auf | |
| Tour in den Provinz“, sagt jemand. | |
| Saïed küsst die tunesische Fahne, als die ersten tunesischen Journalisten | |
| zu ihm in die Rue Ibn Khaldoun kommen, eine heruntergekommene Nebenstraße | |
| im Zentrum von Tunis. Am Montag stellt sich heraus: Nach vorläufigen | |
| Ergebnissen der Wahlkommission ISIE liegt der konservative | |
| Verfassungsrechtler mit 19 Prozent tatsächlich auf Platz eins. | |
| Zweiter ist demnach der bekannte Medienmogul Nabil Karoui, der aus dem | |
| Gefängnis heraus kandidiert hat. Knapp dahinter rangiert Ennahda-Kandidat | |
| Mourou. Der amtierende Premierminister Youssef Chahed landet nur auf Platz | |
| 5. | |
| ## Hungerstreik in Haft | |
| Völlig anders als bei Professor Saïed wird beim Kampagnenteam von Nabil | |
| Karoui gefeiert. Vor der Straße tanzen Kinder und Jugendliche zu lauter | |
| Musik aus Autoradios. Überall liegen Flyer mit Bildern von ihm, junge | |
| Frauen betreuen die Gäste, die Karouis Frau persönlich empfängt. Der | |
| Besitzer des Senders Nessma TV ist vor der Wahl in den Hungerstreik | |
| getreten und sieht sich als politischer Häftling. Auch internationale | |
| Diplomaten fragen sich, warum der „Berlusconi von Tunesien“ nach | |
| dreijähriger Ermittlungen wegen Steuerhinterziehung ausgerechnet wenige | |
| Wochen vor den Wahlen von einer Antiterroreinheit verhaftet wurde. Nach der | |
| Stichwahl im Oktober könnte er direkt aus der Gefängniszelle in den | |
| Präsidentenpalast einziehen. | |
| Mit einer französischen PR-Firma will Karoui dann den „Krieg gegen die | |
| Armut“ beginnen. Er verspricht staatliche Investitionen und private | |
| Start-ups vor allem in Sidi Bouzid, Kasserine und anderen Orten des | |
| vernachlässigten Südens. | |
| Nach ersten Umfragen haben vor allem schlecht ausgebildete Tunesier auf dem | |
| Lande den 56-jährigen Unternehmer Karoui gewählt. Aber junge Gebildete | |
| haben lieber für den 59-jährigen Professor Saïed gestimmt. „150.000 | |
| Studenten machen jedes Jahr ihren Abschluss, aber sie bekommen nur einen | |
| Job, wenn ihre Eltern die richtigen Beziehungen haben“, erklärt diesen | |
| Erfolg Elfkah Komel, der an Saïeds Programm arbeitet. „Kaïs Saïed steht f�… | |
| den Neuaufbau des Verhältnisses von Bürgern und Institutionen, basierend | |
| auf Gesetzen und nicht auf Beziehungen. In Tunesien sitzen viele Leute | |
| unschuldig im Gefängnis. Wir wollen einen neuen Sozialvertrag.“ | |
| Am 23. Oktober werden also zwei Außenseiter gegeneinander um den Einzug in | |
| Tunesiens Präsidentenpalast antreten. Zwar haben mit 45 Prozent der 7 | |
| Millionen registrierten Wähler weniger Menschen als erwartet bei der Wahl | |
| um die Nachfolge des vor sechs Wochen verstorbenen 92-jährigen Caid Essebsi | |
| abgestimmt, bei Tunesiens dritter freier Wahl nach dem Sturz von Diktator | |
| Ben Ali vor acht Jahren. Ihre Botschaft ist ähnlich klar wie damals: gegen | |
| den Status quo, gegen die Eliten in Tunis. | |
| 16 Sep 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Mirco Keilberth | |
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