# taz.de -- Zum Tod von Sigmund Jähn: Hoch hinaus mit Bodenhaftung | |
> Buchdrucker, Pionier, Offizier – und schließlich der erste Deutsche im | |
> Weltall. Sigmund Jähn war loyal zu seinem Staat, aber kein Claqueur. | |
Bild: Geliebter Offizier. Sigmund Jähn schreibt am Rand des X. SED-Parteitags … | |
BERLIN taz | Beginnen wir die Geschichte in einem englischen Pub in der | |
Grafschaft Wiltshire westlich von London. Im Dezember 1992 saßen dort | |
Thomas Reiter, der gerade eine Ausbildung absolvierte, und Sigmund Jähn bei | |
einem Bier zusammen. Jähn beruhigte den angehenden Astronauten Reiter, dass | |
ihm die Russen schon alles beibringen würden, was nötig wäre, um ins | |
Weltall zu fliegen. | |
Der Bundeswehrsoldat Reiter war gerade für die europäisch-russische Mission | |
Euromir 95 ausgewählt worden. Nun war ihm etwas unwohl bei dem Gedanken, | |
mit der Familie für mehr als ein Jahr in das „Sternenstädtchen“, eine | |
geschlossene Stadt bei Moskau, zu ziehen – ganz ohne Kenntnisse von Sprache | |
und Kultur dieses Landes. | |
Wie gut, dass es diesen Sigmund Jähn gab, der das alles schon lange hinter | |
sich hatte, weil er 1978 mit einem sowjetischen Raumschiff für sieben Tage | |
ins All geflogen war. Jähn kannte die sowjetische Raumfahrt und ihre | |
eigentümlichen Traditionen. Dazu gehörte, dass sich alle Raumfahrer am | |
Vorabend des Fluges den sowjetischen Western „Weiße Sonne der Wüste“ | |
ansahen und vor dem Start noch einmal die Räder des Busses anpinkelten, der | |
sie zur Startrampe brachte. Wenn es ein Bild brauchte, das die | |
Veränderungen anzeigt, die sich um das Jahr 1990 ereignet hatten, dann | |
dieses: In einer englischen Kneipe redet ein ehemaliger Generalmajor der | |
NVA beruhigend auf einen Tornado-Piloten der Bundeswehr ein, dass er | |
getrost nach Moskau ziehen könne. | |
Das war der Beginn der zweiten, „gesamtdeutschen“ Karriere des hoch | |
dekorierten „Helden der DDR“. Die erste wäre 1978 um ein Haar gescheitert. | |
Sigmund Jähn und sein sowjetischer Kommandant Waleri Bykowski waren mit dem | |
Sojus-Raumschiff am 26. August 1978 planmäßig gestartet, hatten wenig | |
später an der Raumstation Saljut 6 angedockt und wollten umsteigen. Doch | |
die Luke klemmte. Jähn und Bykowski rissen an der Klappe, die den Weg in | |
die Raumstation versperrte. In der Schwerelosigkeit brachte das allerdings | |
nicht viel. „Ich schwitzte Blut und Wasser und mir kam der | |
niederschmetternde Gedanke, dass wir vor verschlossener Tür wieder umkehren | |
mussten“, erinnerte sich Jähn später. „Aufstieg gelungen, Umstieg | |
verpatzt!“ Schließlich stützten sich die beiden Männer mit den Füßen an … | |
Seiten des Raumschiffes ab und zerrten gemeinsam mit Leibeskräften. Langsam | |
gab die Luke nach. Der Dichtungsring hatte sich festgesaugt. | |
## Propaganda mit DDR-Wimpeln und Lenin-Bildern | |
Was dann folgte, waren tägliche Direktübertragungen, eine Pressekonferenz, | |
dazu allerlei DDR-Wimpel, sowjetische Fahnen, Marx- und Leninbilder, | |
Abzeichen, ein kosmischer Poststempel – kurzum ideologischer | |
Schnickschnack, der die Überlegenheit des Sozialismus und den Bruderbund | |
zwischen der DDR und der Sowjetunion beweisen sollte. Für die Jüngsten | |
wurde der DDR-Sandmann in der Schwerelosigkeit kurzerhand mit dem | |
sowjetischen Strohpüppchen Mascha vermählt, sodass auch den Kleinsten klar | |
werden musste, dass der siebte Himmel nur sozialistisch sein konnte. „Der | |
erste Deutsche im All – ein Bürger der DDR“, hatte das Neue Deutschland am | |
Tage nach dem Start verkündet. Die Springer-Presse hingegen höhnte von | |
„Sachso-Germanen“ und dem „Mitesser in der Russen-Rakete“. Dennoch: Ein | |
paar Spätsommertage lang gab der Vogtländer Sigmund Jähn den Menschen in | |
der DDR das Gefühl, den Westen, der auf wirtschaftlichem Gebiet längst | |
enteilt war, überflügelt zu haben. | |
Streng genommen hielt das Gefühl bis 1983 an. Dann erst reiste mit Ulf | |
Merbold der erste Bundesbürger mit dem amerikanischen Spaceshuttle | |
Columbia von Florida aus ins All. Zehn Tage blieb Merbold dort, was die | |
bundesdeutschen Medien ausgiebig feierten. Dass Merbold wie Jähn aus dem | |
Vogtland stammte, wurde nicht weiter betont. | |
Sigmund Jähn beteuerte stets, dass er bei seiner Mission biologische und | |
physikalische Experimente an Bord der Station Salut 6 zu erledigen hatte, | |
die es auszuwerten galt. Zunächst aber wurde die Sternenreise nach Jähns | |
Rückkehr am 3. September 1978 ideologisch verwertet. Der Vogtländer war | |
schließlich nicht nur wegen seiner mentalen und physischen Qualitäten eine | |
Idealbesetzung. Als Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee hatte er zuvor | |
eine glänzende DDR-Karriere hingelegt, die ihn vom Pionierleiter zum | |
Jagdflieger aufsteigen ließ. Extrablätter druckten Bildstrecken: der Knabe | |
Sigmund mit Kaninchen, der junge Mann als Pilot, bei der Hochzeit, beim | |
Angeln, als Vater, als Genosse. | |
Leonid Breschnew und Erich Honecker dekorierten ihn mit Orden, er wurde von | |
Werktätigen empfangen, von Schulklassen gefeiert und in Bronze gegossen, | |
ein Schiff trug seinen Namen. Jähn hat die Huldigungen in einer Mischung | |
aus Pflichtbewusstsein und Dankbarkeit über sich ergehen lassen. | |
## Loyal, aber kein Regimetreuer | |
Daraus Regimetreue abzuleiten geht allerdings fehl. Jähn hat sich in den | |
letzten, gewalttätigen Monaten des SED-Staates jedenfalls mit Äußerungen, | |
gar Ergebenheitsadressen zurückgehalten. Loyal, das war er gegenüber Staat | |
und Regierung. Sigmund Jähn, der als Sohn eines Sägewerksarbeiters und | |
einer Näherin am 13. Februar 1937 im sächsischen Morgenröthe-Rautenkranz | |
geboren wurde, einem Dorf mit 800 Einwohnern, nutzte alle | |
Aufstiegsmöglichkeiten, die einem jungen Menschen in der DDR zur Verfügung | |
standen, vorausgesetzt, er selbst war willig und seine Herkunft passte in | |
das ideologische Schema der SED. Bei Jähn stimmte beides. Er wurde | |
Buchdrucker, dann Pionierleiter, Mitglied der SED, dann Offizier und | |
Jagdflieger, dann Kosmonaut. Und nach der Rückkehr wurde Sigmund Jähn zum | |
Volkseigentum. Zumindest für ein paar Jahre. | |
Als alle Triumphzüge bewältigt waren, der Alltag einkehrte und die | |
„Weltraumnation“ DDR weiter an ganz irdischen Krankheiten laborierte, hat | |
sich Sigmund Jähn etwas aus dem Rampenlicht zurückgezogen. Ulf Merbold war | |
auf dem Weg ins All, da wertete Jähn in Potsdam endlich die | |
wissenschaftlichen Ergebnisse seines Fluges aus und promovierte am | |
Zentralinstitut für Physik der Erde auf dem Telegrafenberg. Heute befinden | |
sich dort das GeoForschungsZentrum und das Potsdam-Institut für | |
Klimafolgenforschung. | |
Mit einer Spezialkamera, der MKF 6 aus dem VEB Carl Zeiss Jena, die damals | |
tatsächlich „Weltniveau“ hatte, hatte Jähn von der Raumstation die Erde | |
fotografiert. Die dabei entstandenen Bilder gaben sehr genau Auskunft über | |
Bodenschätze, den Zustand von Wäldern, Wasser und Böden und über das | |
Wetter. Jähn wurde 1983 mit „Summa cum laude“ promoviert, zum Generalmajor | |
befördert und aufs Altenteil abgeschoben. Was ist es anderes, wenn er | |
Leiter des Zentrums für Kosmonautenausbildung bei der NVA wurde? Trotz | |
vieler begeisterter Kinder, die ins All fliegen wollten – die DDR bildete | |
keine Kosmonauten mehr aus. Die Sowjets boten weitere Flüge nur gegen Geld | |
an und so flogen Kosmonauten aus Frankreich und Indien ins All, jedoch kein | |
weiterer DDR-Bürger. Den wichtigsten Auftrag hatte Sigmund Jähn ohnehin | |
erledigt: fünf Jahre vor dem Bundesbürger Ulf Merbold dort zu sein, wo nur | |
die großen Staaten nach den Sternen griffen. | |
## Wenn sich die „Klassenfeinde“ treffen | |
Ulf Merbold war dann derjenige, der Sigmund Jähn zu seiner zweiten Laufbahn | |
verhalf. 1984 trafen sich die beiden gebürtigen Vogtländer, eigentlich noch | |
„Klassenfeinde“, am Rande einer Tagung im österreichischen Salzburg und | |
tasteten einander ab. „Es war wie ein Ballspiel“, erinnerte sich Merbold | |
später. „Unsere gemeinsame Erfahrung nach den Raumflügen war, dass wir auf | |
einem sehr kleinen Globus leben.“ Ein Atomkrieg würde alles in Asche legen. | |
1987 wurde Merbold zum Leiter des Astronautenbüros des Deutschen Zentrums | |
für Luft- und Raumfahrt und verblüffte bereits im Frühjahr 1989 mit der | |
Idee, auf die Sowjets zuzugehen und eine gemeinsame Mission auf die | |
Raumstation Mir vorzuschlagen. Der ideale Betreuer sei Sigmund Jähn. | |
Merbolds Chef hielt das zwar für eine „verrückte Idee“, Jähn war | |
schließlich NVA-General. Doch wenig später reiste Jähn mit Honeckers | |
Billigung erstmals nach Köln. Als die Berliner Mauer fiel, hatte Jähn bald | |
einen Werkvertrag in der Tasche über seine Mitarbeit als „Verbindungsmann | |
zum Sternenstädtchen“. | |
Jähn bezog im „Sternenstädtchen“ bei Moskau ein Büro. In der abgeschirmt… | |
Siedlung wurden die Kosmonauten an allerlei Geräten ausgebildet, in einem | |
Bassin wurde die Schwerelosigkeit simuliert, und in einer Kapsel, einer | |
furchterregenden Zentrifuge, wurden die Kräfte, die bei Start und Landung | |
wirken, trainiert. An einem Weiler mitten in dem abgesperrten Areal stehen | |
Bungalows, in denen die westlichen Gäste mit etwas mehr Komfort als in den | |
Plattenbauten ringsum untergebracht werden. Auch Jähn richtete sich ein. | |
Später erzählte er einmal, dass er gern ganz nach Russland gezogen wäre. | |
Allerdings sei seine Frau Erika davon nicht zu überzeugen gewesen. Als Jähn | |
als Verbindungsmann der ESA längst einen Nachfolger hatte, sah man ihn | |
durch das Sternenstädtchen gehen, wie er Hände schüttelte, Freunde begrüßte | |
und kleine Reisegruppen durch die Hallen führte, in denen die Kosmonauten | |
vorbereitet wurden. | |
Der erste Deutsche, der nach Sigmund Jähn mit einer Sojus-Rakete zur | |
Raumstation Mir flog, war 1992 Klaus-Dietrich Flade. 1995 folgte jener | |
skeptische Thomas Reiter, dem Jähn im Pub in Mittelengland die Angst vor | |
den Russen genommen hatte. Der letzte deutsche Gast auf der Mir war 1997 | |
Reinhold Ewald. | |
## Jähns zweite deutsch-deutsche Karriere | |
Im Jahr 2001 verglühte die russische Raumstation im Pazifik. Doch Sigmund | |
Jähns Vermittlerrolle war damit noch lange nicht beendet. Im Juni 2018 war | |
Jähn wieder einmal im Kosmodrom Baikonur in Kasachstan und verfolgte den | |
Start von Alexander Gerst zur ISS. Da war Jähn unter den deutschen | |
Raumfahrern, aber auch unter den vielen Enthusiasten mit DDR-Provenienz | |
längst zu einem Mythos geworden. | |
Man muss den Andrang einmal erlebt haben, wenn Jähns Heimatort | |
Morgenröthe-Rautenkranz zu den Raumfahrttagen einlädt. Sternenkundige | |
nehmen genauso die beschwerliche Anreise in Kauf wie Hobbyingenieure, | |
Spezialisten, gewesene, aktive und zukünftige Kosmonauten und natürlich | |
Fans, Freunde und Kameraden. Sie alle scharten sich alle zwei Jahre um das | |
Zentralgestirn Sigmund Jähn. Hochrangige Manager der ESA, der Europäischen | |
Raumfahrtagentur, kamen mit genauso großer Regelmäßigkeit wie russische | |
Raumfahrer. Ulf Merbold und Thomas Reiter versäumten kaum ein Treffen. Und | |
seine engsten Freunde versammelte Jähn, der längst in Strausberg bei Berlin | |
wohnte, dann am Abend auf seiner heimatlichen Datscha in | |
Morgenröthe-Rautenkranz. Russische Traditionen, darf man annehmen, musste | |
er da keinem mehr lehren. | |
2008 war auch Waleri Bykowski mit dabei, setzte sich mit Sigmund Jähn | |
abseits vom Trubel an den Straßenrand und rauchte eine Zigarette nach der | |
anderen, sodass man sich unvermittelt fragte, wie er es die Woche im Kosmos | |
ausgehalten hatte. Bykowski, ein Kosmonaut der Gagarin-Generation, der | |
erstmals 1963 ins All geflogen war, bekannte später, dass er skeptisch war, | |
als er hörte, dass er 1978 mit einem Deutschen fliegen würde. Sigmund Jähn | |
hat mit seiner ruhigen, einnehmenden Art auch den Russen überzeugt. | |
Mag es zwischen dem Westen und der Russischen Föderation inzwischen wieder | |
ein Übermaß an Spannungen geben, wer sich in Morgenröthe-Rautenkranz | |
versammelte, hatte die Welt aus einer höheren Warte erlebt. Bei eher | |
seltenen öffentlichen Auftritten betonte Jähn immer wieder die | |
Verletzlichkeit der Erde. Die Umweltverschmutzung, die Rodung der | |
Regenwälder, die Veränderungen des Weltklimas. „Wir sollten unsere Erde | |
schützen“, betonte Sigmund Jähn im vergangenen November vor Schülern in | |
Göttingen. | |
Als ein ehemaliger sowjetischer Kommunist und Raumfahrtexperte Sigmund Jähn | |
gegenüber bekannte, dass er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gläubig | |
geworden sei, bekannte Jähn: „Ich bin Atheist.“ Sein großer Traum, noch | |
einmal ins Weltall zu fliegen, hat sich nicht erfüllt. Am Samstag ist | |
Sigmund Jähn im Alter von 82 Jahren in Strausberg bei Berlin gestorben. Man | |
möchte ihm wünschen, dass er sich die Welt jetzt wieder von oben ansehen | |
kann. | |
Korrektur: Zunächst hatte es im Text geheißen, Ulf Merbold stamme wie | |
Sigmund Jähn aus dem „sächsischen Vogtland“. Es stimmt zwar, dass beide a… | |
dem Vogtland stammen. Merbold ist jedoch in Greiz auf die Welt gekommen und | |
in Wellsdorf aufgewachsen – beides liegt im thüringischen Vogtland an der | |
Grenze zu Sachsen. | |
23 Sep 2019 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
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