| # taz.de -- Sigmund Jähn und Günter Kunert: Helden wie wir | |
| > Wenn wir unsere Toten begraben – unsere Omas, unsere Dichter, unsere | |
| > Kosmonauten –, dann fragen wir im Stillen auch, wie viel Zeit uns wohl | |
| > noch bleibt. | |
| Bild: Kosmonaut Sigmund Jähn, nach seinem Flug mit der Sojus 31 zur Raumstatio… | |
| Sigmund Jähn ist gestorben. Günter Kunert ebenfalls. Und nachmittags hatten | |
| wir noch in Sachsen am Grab meiner Oma beisammengestanden. Die ganze | |
| Bagage, versunken in Gedanken daran, wie die Zeit verrinnt. Dass die, die | |
| man liebt, gehen müssen. | |
| Sigmund Jähn, mein Kosmonaut, gehörte für mich dazu. Günter Kunert, | |
| spracheleganter Chronist dieses Landes, auch. Der eine wurde 82, der andere | |
| 90 Jahre alt. | |
| Meine Oma ist vor elf Jahren gestorben, sie wurde 99 Jahre alt. Unsere | |
| Familie stand also an ihrem 110. Geburtstag beisammen. Jedenfalls alle, die | |
| die Zeit gefunden hatten, in dieses kleine Nest in Sachsen zu fahren, in | |
| dem sie zuletzt gelebt hatte. Meine inzwischen sehr alten Eltern, mein | |
| ziemlich alter Onkel, dessen erwachsene Kinder samt Babysöhnen, mein | |
| mittelalter Bruder und meine alternde Wenigkeit. | |
| Wir standen also da, ordneten die Chrysanthemen und fragten uns im Stillen, | |
| wie viel Zeit uns allen wohl beschieden sein mag. Eine kleine Furcht lag in | |
| der Altweibersommerluft. Meiner Oma hätte das nicht gefallen. Sie war eine | |
| strenge Frau gewesen, eine sächsische Postbotin, die ausgestellte | |
| Gefühligkeit wegzuwischen pflegte wie alte Brotkrümel. | |
| ## Es ist okay, zu sterben. Einerseits | |
| Ich kann mich noch gut an den Tag ihrer Beerdigung erinnern, an mein | |
| Gefühl, dass es in ihrem hohen Alter absolut okay ist, zu sterben. | |
| Einerseits. Aber eben auch, wie schlimm es ist, sie endgültig verloren zu | |
| haben. Wer wird sich noch an mich erinnern, wie ich als Kind in ihrer | |
| Küchenbank im Dresdner Hechtviertel sitze, vor mir auf dem Frühstücksbrett | |
| drei harte Weißbrotschnitten, dünn mit Margarine und Zörbiger Kunsthonig | |
| bestrichen? Tod, du Arschloch! | |
| Wir saßen am Tag ihrer Beerdigung wundgeheult in der Kapelle, und als alles | |
| vorbei war, ging ich mit meiner Schwester vor das Friedhofstor und rauchte | |
| nach Jahren eine Zigarette. Auch schon egal. | |
| Nun also [1][Sigmund Jähn]. Einziger DDR-Bürger im Weltall. | |
| Morgenröthe-Rautenkranz. Blauer Trainingsanzug. Schönes, ganz | |
| ungekünsteltes Lächeln. | |
| Die Journalistin Jana Hensel hat Jähn im Sommer letzten Jahres besucht. | |
| Sein Weltraumflug war da genau 40 Jahre her. Hensel fragte in ihrem Text: | |
| Warum ist dieser Mann kein Held? Sie meinte: kein gesamtdeutscher Held. | |
| ## Liebe ohne gesamtdeutsches Tun | |
| Ich dachte damals, dass der Umstand, dass Sigmund Jähn im Westen wohl der | |
| Mehrheit kein Begriff ist, zwar bedauerlich sei. Aber auch kein Beinbruch. | |
| Sigmund Jähn wurde von so vielen Menschen aufrichtig und so was von nicht | |
| verordnet gemocht, auch von mir. Das war eine Liebe, die keines | |
| gesamtdeutschen Tums bedurfte. Jähn, der Vogtländer, hätte vermutlich auch | |
| keinen allzu großen Wert auf nationales Heldentum gelegt. | |
| [2][Günter Kunert] ist noch weniger ein gesamtdeutscher Held gewesen. | |
| Obwohl der Autor, Lyriker, Grafiker dazu getaugt hätte. In den achtziger | |
| Jahren, als ich noch Bücher – so wie heute das iPhone – in der Manteltasche | |
| durch Ostberlin trug, las ich von Kunert „Der andere Planet“. | |
| In seinem Reisetagebuch erzählte er von seiner Gastdozentur an der | |
| University of Texas Anfang der Siebzigerjahre. Ich blätterte die holzigen | |
| Seiten um und begriff, dass es da draußen, hinter den Mauern in unseren | |
| Köpfen, noch eine komplett andere, weitere und komplizierte Welt gab. Dass | |
| wir uns aber – so wie Kunert – überall hin mitnehmen. Unsere Geschichte, | |
| unser Herz, unsere Familie, die wir für je eine Lebenszeit zugeeignet | |
| bekommen. Und sei es nur in Gedanken. | |
| Am Ende dieses Septembersonntags 2019 saß ich, eingekapselt in eine | |
| stählerne Autohülle, im zähen Rückreiseverkehr von Dresden nach Berlin. In | |
| meinem Handy blitzten die Nachrichten auf. „Trauer um Raumfahrer Sigmund | |
| Jähn“. „Schriftsteller Günter Kunert ist tot“. Hinten saßen Mama und P… | |
| und blickten müde und still gemeinsam in den Brandenburger Sonnenuntergang | |
| neben der A13. Ich sagte ihnen nichts. Aber ich dachte: Nehmt eure Helden | |
| in den Arm. | |
| 23 Sep 2019 | |
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| Anja Maier | |
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