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# taz.de -- Aufwachsen mit Hartz IV: „Stay poor please“
> Sarah-Lee Heinrich wuchs mit Hartz IV auf – und weiß, wie schwierig es
> ist, aus dem System auszusteigen. Nun kämpft sie für sich und andere.
Bild: Sarah-Lee Heinrich in Köln: unabhängig und kämpferisch
taz: Frau Heinrich, in Köln eine Wohnung zu finden ist an sich schon
schwierig. Sie sind vor Kurzem von zu Hause ausgezogen – direkt aus
[1][Hartz IV]. Wie lief das?
Sarah-Lee Heinrich: Ich war total eingeschüchtert – Schufa, Bürgschaft,
Kaution, das alles. Aber ich hatte Glück bei der Suche, habe eine günstige
Wohnung gefunden und der Vermieter wollte keine Nachweise, nichts. Sonst
hätte ich das nicht gepackt. Davor habe ich bei meiner Mutter gelebt, die
Hartz IV bezieht. Also waren wir eine … Wie heißt das Wort noch mal?
Bedarfsgemeinschaft?
Genau. Ich finde es richtig schön, dass ich das Wort nicht mehr weiß, weil
ich endlich raus bin. Denn Hartz IV führte dazu, dass ich bei einem Minijob
mit 450 Euro Lohn nur 100 Euro behalten durfte. Von jedem Euro, den ich
mehr hatte, wurden 80 Cent abgezogen. Sinn davon ist, dass Kinder nicht für
ihre Eltern arbeiten. Dabei arbeiten andere 16-Jährige ja auch. Diese 100
Euro habe ich natürlich nicht jeden Monat gespart, um mir später den Auszug
leisten zu können, sondern ich habe das Geld ausgegeben, um das normale
Leben einer Jugendlichen führen zu können.
Das war ohne dieses Geld nicht möglich?
Der Hartz-IV-Satz ist viel zu niedrig. Meine Mutter konnte es sich nicht
leisten, mir das Tanzen zu bezahlen oder mir einen Zehner mitzugeben, damit
ich mal mit meinen Freunden Pizza essen kann. Dafür habe ich meine 100 Euro
ausgegeben, von denen nie etwas übrig geblieben ist. So kommen Kinder aus
Hartz-IV-Haushalten in die Situation, dass sie ausziehen wollen, um der
Armut zu entkommen und auf eigenen Füßen zu stehen, aber sie haben einfach
das Geld dafür nicht. Wie willst du von Nichts eine Kaution von 1.500 Euro
bezahlen? Wie willst du dir eine Waschmaschine leisten? Es ist mies, den
Jugendlichen weder genug Geld zu geben noch die Möglichkeit, zu arbeiten.
Damit sagt ihnen der Staat: Stay poor, please.
Seit Juni haben Sie jetzt Ihr kleines Apartment. Wie haben Sie das trotzdem
geschafft?
Auch da hatte ich Glück. Meine Patentante hatte mir Geld für den
Führerschein gegeben, das jetzt komplett für die Wohnung draufgegangen ist.
Ganz viele Jugendliche haben so eine Möglichkeit aber nicht.
Gibt es Jugendliche, die lieber im System Hartz IV bleiben, als so ein
Risiko auf sich zu nehmen?
Ja, das ist einer der Schlüsselfaktoren, warum Armut oft vererbt wird. Die
Kinder und Jugendlichen, die in Armut aufwachsen, haben kein Vitamin B. Ich
habe ständig Angst, irgendwas falsch zu machen. Es sind die kleinen Dinge,
die einen total verrückt machen. Wie oft hatte ich einen
Nervenzusammenbruch wegen irgendwelcher Kleinigkeiten. Ich war schon allein
damit überfordert, herauszufinden, wie ich meine Adresse ummelde. Beim
Jobcenter haben sie mir nicht gesagt, dass ich das machen muss. Deshalb war
ich einen Monat lang nicht krankenversichert. Sollte sich der Staat nicht
darüber freuen, dass ich durch meinen Auszug aus Hartz IV raus bin? Sollte
er mich nicht dabei unterstützen?
Was sollte der Staat denn tun?
Die Zuverdienstgrenzen zu heben, ist das eine. Eigentlich finde ich aber,
dass Kinder und Jugendliche nicht arbeiten sollen, um ein normales Leben
führen und ausziehen zu können. Wenn die Eltern einen nicht unterstützen
können, sollte nicht das Kind einspringen, sondern der Staat, zum Beispiel
mit einem zinslosen Kredit oder indem er Erstausstattungen finanziert. Die
werden für Hartz-IV-Bezieherinnen auch bezahlt. Aber nicht für die, die
gerade aus Hartz IV raus sind.
Eine Lücke in dieser Übergangsphase?
Genau. Deshalb muss ich jetzt auch GEZ-Gebühren nachzahlen, obwohl ich gar
kein Einkommen habe. Das Bafög kommt erst im Oktober. Von der Nachzahlung
könnte ich mir fast einen Monat Essen kaufen.
Warum wollten Sie trotzdem unbedingt aus der Bedarfsgemeinschaft raus?
Ich habe es gehasst, vom Jobcenter abhängig zu sein. Aus dieser
Bittstellerposition raus zu kommen, war wichtig für mein Selbstbewusstsein.
Ich verbinde einfach so viel Negatives mit dem Amt. Auch die Gänge zur
stellvertretenden Schulleitung, weil das Jobcenter das Geld für die
Klassenfahrt immer noch nicht überwiesen hat. Und das in der 7. Klasse. Das
ist nicht schön.
Hatten Sie Mitschülerinnen oder Freunde, die in einer ähnlichen Situation
waren?
Nein, gar nicht. Ich habe lange nur mit wenigen Leuten darüber geredet. Ich
erinnere mich an eine Situation im sozialwissenschaftlichen Unterricht. Wir
sollten in der Gruppe darüber diskutieren, welche Berufe unsere Eltern und
Großeltern haben und hatten. Meine Oma hat acht Kinder alleine aufgezogen,
meine Mutter hat immer mal wieder irgendwo gearbeitet, ohne Ausbildung. Was
sollte ich da sagen? Ich war so wütend. Es lässt einen auch mit 17 Jahren
nicht kalt, wenn deine Mitschüler damit prahlen, dass die Großeltern schon
Akademiker waren. Du merkst den Unterschied, dass ihnen vieles einfacher
fällt.
Schon auf dem Gymnasium waren Sie eine Ausnahme. Mit welchen Gefühlen gehen
Sie jetzt an die Uni?
Ich werde die Erste in meiner Familie sein, die studiert. Auf das Gymnasium
bin ich wegen meiner guten Noten gegangen, aber auch, weil ich in der
Grundschule Probleme mit Mobbing und Rassismus hatte. Viele meiner
damaligen Mitschüler sind auf die Gesamtschule gegangen, deshalb habe ich
mir gesagt: Wenn ihr dorthin geht, gehe ich auf das Gymnasium. Dort hatte
ich dann andere Probleme: reiche Kids, die schon in der 6. Klasse über
Leute gelästert haben, die bei C&A einkaufen. Ich hatte ständig Angst, dass
sie die Etiketten in meinen Anziehsachen sehen.
Wie gingen die Lehrer mit Ihnen um?
Die haben mein Potential gesehen und mich sehr unterstützt. Sie haben mich
dazu überredet, mich um ein Schülerstipendium zu bewerben, das
Motivationsschreiben dafür hatten sie schon halb fertig geschrieben. Aber
ich wette, wenn meine Noten nur etwas durchschnittlicher gewesen wären,
hätte mir das auch keiner zugetraut.
Wer überhaupt gefördert werden will, muss von vornherein Herausragendes
leisten?
Ja. Da geht’s nicht nur um Förderung, sondern auch um Leute, die dich
anschauen und an dich glauben. So konnte ich überhaupt erst so ein großes
Selbstbewusstsein aufbauen, wie ich es heute habe. Und nur so habe ich es
bis zum Auszug geschafft. Aber Leute, die aus Verhältnissen wie ich kommen,
werden nicht oft angeschaut. Ihnen wird nicht gesagt, dass aus ihnen was
wird.
Haben Sie sich deshalb dazu entschlossen, in der Öffentlichkeit über das
Aufwachsen in Armut zu sprechen?
Ich weiß, wie schwierig es ist, darüber zu reden. Ich hätte mir früher
gewünscht, dass es jemand anderes für mich macht. Aber Armut ist ein
Schamthema, gerade für Kinder. Zwei Kinder in Armut können koexistieren und
nichts von ihrer Gemeinsamkeit wissen. Ich dachte auch, dass ich alleine
bin. Viele privilegiertere Leute wissen gar nicht, welche Hürden man
überwinden muss und vor welchen Hürden man irgendwann stehen bleibt. Jetzt
freue ich mich, wenn ich für diese Kinder eine Lobby sein kann.
Sie fordern eine Kindergrundsicherung. Wie soll die aussehen?
Ich stehe voll hinter dem Modell vom Bündnis Kindergrundsicherung.
Familien, die besonders wenig haben, bekommen für ein Kind den Höchstsatz
von 628 Euro – ein großer Unterschied zu den 200 Euro Kindergeld. Mit
steigendem Einkommen schmilzt der Satz.
Was würde sich dadurch im Leben der Kinder ändern?
Für Kinder in Bedarfsgemeinschaften würden keine Sonderregeln mehr gelten.
Das ist zunächst eine emotionale Sache: Ich möchte vom Recht nicht anders
behandelt werden als meine Freunde. So würde ich nicht wegen der Situation
meiner Mutter Geld bekommen, sondern weil ich Kind bin. Das Modell würde
mehr soziale Teilhabe ermöglichen, ich könnte mal ins Kino gehen oder mir
einen Büchereiausweis holen. Das schafft Normalität.
Und erleichtert die Selbstständigkeit, wenn es um den Weg aus Hartz IV
geht?
Bestimmt. Ich selbst bin eigentlich nur ein Glücksfall. Viel mehr Menschen
könnten in einer Position wie ich sein, wenn sie früh eine ordentliche
Unterstützung bekommen hätten. Wir könnten viel mehr Erfolgsgeschichten
haben. Jeder braucht eine gute Startposition. Solange die so
unterschiedlich sind, kann eine Gesellschaft nicht fair sein.
19 Sep 2019
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## AUTOREN
Jana Lapper
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