# taz.de -- Grundsicherungsempfänger Artur Streit: Ein zu kleines Stück vom K… | |
> Artur Streit hat 30 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt und erhält nur | |
> die Grundsicherung. Jetzt demonstriert er regelmäßig vor der | |
> SPD-Zentrale. | |
Bild: Auch vor dem Axel-Springer-Hochhaus demonstrierte Streit bereits | |
BERLIN taz | Vor dem Willy-Brandt-Haus, der SPD-Parteizentrale in Berlin, | |
steht ein Mann und demonstriert. Er ruft nichts, er hebt nichts in die | |
Höhe, er steht einfach nur da und raucht. An den braunen Würfel vor dem | |
Eingang, auf dem „SPD“ prangt, hat er ein Plakat gelehnt. „ALG II, | |
Grundsicherung, Mindestlohn reichen hinten und vorne nicht“ steht darauf. | |
Schon öfter stand er hier, immer mit Plakat. Kurz vor Weihnachten wanderte | |
er damit vor das Axel-Springer-Gebäude und versuchte, als Weihnachtsmann | |
verkleidet, die Medien auf sein Anliegen aufmerksam zu machen. Nun aber | |
gibt es für Artur Streit einen Anlass, wie er aktueller nicht sein könnte, | |
um erneut bei der SPD zu protestieren: die in der vergangenen Woche | |
vorgestellten Rentenpläne von Arbeitsminister Hubertus Heil. | |
Demnach sollen Menschen, die 35 Jahre gearbeitet und Pflichtbeiträge in die | |
Rentenkasse eingezahlt haben, ohne Bedarfsprüfung monatlich bis zu 447 Euro | |
mehr erhalten können. Auch Erziehungs- und Pflegezeiten würden | |
eingeschlossen. Artur Streit ist einer von denen, über die sie sagen: „Wer | |
Jahrzehnte hart gearbeitet hat, sollte eine anständige Rente bekommen, die | |
deutlich über der Grundsicherung liegt. Damit sorgen wir für mehr | |
Leistungsgerechtigkeit!“ | |
[1][Andreas Nahles hat das getwittert,] Hubertus Heil sich ähnlich in | |
Talkshows und anderen Gesprächen geäußert. Artur Streit, 59, bezieht diese | |
Grundsicherung – und hat lange und hart gearbeitet. „Auf 30 Beitragsjahre | |
komme ich mindestens“, sagt er, „vielleicht sogar noch auf ein, zwei mehr.�… | |
Nach jetzigem Stand wird ihm das nichts bringen. Die Grundsicherung als | |
Abschreckung soll bleiben, wie sie ist. | |
„Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“ erhalten in Deutschland | |
alle, von denen wegen ihres Alters oder aus gesundheitlichen Gründen nicht | |
erwartet werden kann, mehr als drei Stunden am Tag zu arbeiten, um ihre | |
„materielle Notlage“ zu verbessern. Der Regelbedarf orientiert sich an dem | |
von Hartz IV, liegt seit Januar 2019 bei 424 Euro, und ist eine | |
„bedarfsgeprüfte Fürsorgeleistung“, die dann greift, wenn nichts anderes | |
mehr da ist. Im September 2018 bezogen nach Angaben des Statistischen | |
Bundesamtes rund 1,07 Millionen Menschen in Deutschland Grundsicherung. | |
Seit der Einführung 2003 steigen die Zahlen, sind mittlerweile mehr als | |
doppelt so hoch wie noch vor 15 Jahren. | |
## Viele Renten könnten unberührt bleiben | |
Streit lässt seinen Zigarettenstummel zu Boden fallen, sieht ihm einen | |
Moment lang hinterher. Dann schiebt er sich langsam aus seiner braunen | |
Lederjacke. Erst den einen Arm, dann … wenn Streit etwas einfällt, das er | |
dringend sagen möchte, hält er inne. „Das ist ein Schritt in die richtige | |
Richtung.“ Noch während er so dasteht, in der zur Hälfte ausgezogenen | |
Jacke, mit dem einen Arm noch im Ärmel und dem zweiten Ärmel, der wie ein | |
leerer Bogenköcher auf seinem Rücken liegt, zündet Streit sich die nächste | |
Zigarette an. | |
„Aber er geht nicht weit genug. Ausgerechnet die besonders armen Rentner | |
könnten leer ausgehen.“ Nach einigen Zügen wechselt er die Hand, damit er | |
auch den zweiten Arm aus der Jacke schälen kann. „Es wird Zeit, dass in | |
Deutschland wieder so über soziale Ungerechtigkeit gestritten wird wie | |
gerade in Frankreich.“ Er streift sich eine gelbe Weste über. | |
[2][Tatsächlich könnten viele Renten von Heils Plänen unberührt bleiben,] | |
wenn diese nicht auch das Studium oder Zeiten von Arbeitslosigkeit | |
berücksichtigen. Noch ist ungeklärt, ob sie mitgemeint und die | |
Grundsicherung so gegebenenfalls vermieden werden könnte. Warum aber | |
beziehen immer mehr Menschen in Deutschland Grundsicherung? Florian Blank | |
vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut in Düsseldorf | |
beschäftigt sich seit Jahren mit dieser Frage. | |
Er sagt: „Weil das allgemeine Rentenniveau sinkt, holt die Grundsicherung | |
von unten auf. Zugleich haben viele Menschen geringere Ansprüche, etwa | |
wegen Arbeitslosigkeit. Immer weniger gelingt es daher, die | |
Grundsicherungsschwelle zu übertreten.“ Genau das möchte Hubertus Heil nun | |
ändern: Er möchte die gesetzliche Rente stärken, sodass der Abstand zur | |
Grundsicherung größer wird. | |
## Brüche im Lebenslauf | |
Also auch zu Menschen wie ihm, zu Artur Streit. Doch sieht so | |
Leistungsgerechtigkeit aus? In Streits Lebenslauf steht ein zehnjähriges | |
Psychologiestudium mit Abschluss als Diplompsychologe, 30 Jahre | |
Sozialarbeit, zum Teil mit Festanstellung, zum Teil auf Honorarbasis. Als | |
sozialpädagogischer Einzelfall-, Familien- und Schülerhelfer ging Streit in | |
Familien, begleitete Kinder, Jugendliche, Heranwachsende, half ihnen, | |
unterstützte sie. | |
„Hatte heftige Fälle dabei“, sagt Streit. „Drogenabhängige Eltern, | |
gewaltbereite Jugendliche, vernachlässigte Kinder.“ Diese Art der | |
Familienhilfe ist heute größtenteils über freie Träger wie die Diakonie | |
organisiert, war früher jedoch direkt bei den Jugend- oder Sozialämtern | |
angesiedelt. Jene beschäftigten die Helfenden, darunter auch Artur Streit, | |
überwiegend auf Honorarbasis. Er zahlte in diesen Jahren freiwillig in die | |
Rentenkasse ein, viel aber war das nicht. | |
Es sind die Jahre, die ihm heute fehlen. Nur einen geringen Rentenbetrag | |
bekommt Streit von dem, was er selbst eingezahlt hat, heraus. Den Großteil | |
muss der Staat aufstocken. Streit seufzt. „Honorararbeit, Brüche im | |
Lebenslauf, Zeiten von Arbeitslosigkeit – dann sieht es schlecht aus.“ Auf | |
35 Jahre zu kommen, ist ihm nicht gelungen, und in Zukunft, so glaubt er, | |
würden das noch viel weniger Menschen schaffen. Vor allem nicht Akademiker | |
wie er. | |
Streit sagt, sein Psychologiestudium war vielleicht ein Fehler. Weil die | |
Arbeit, die er über so viele Jahre leistete, qua Qualifikation die eines | |
Sozialarbeiters ist. Für jeden Job, den er in dem Bereich ausübte, | |
benötigte der Berliner eine Sondergenehmigung. Das hat ihm oft Jobs | |
verbaut. Und dann so vieles mehr: Streit hat keinen Führerschein, Jobs im | |
Berliner Umland konnte er nicht annehmen. Für das Thema seiner Diplomarbeit | |
fand er zunächst keinen Professor, der es betreuen wollte. Also studierte | |
er länger als beabsichtigt. Noch heute zahlt Streit seine BAföG-Schulden | |
ab. Der Plan, nach Thailand auszuwandern, scheiterte. Mit einer | |
Weiterbildung, die er sich aussuchte, traf er die falsche Wahl. | |
Streit baute Anfang der 2000er einen freien Träger mit auf, wurde bei der | |
„Initiative für Berliner Einzelfall- und Familienhilfe e. V.“ (Ibef) | |
Geschäftsführer. Im Zuge der Auswirkungen der Berliner Bankenkrise kürzte | |
der damalige SPD-Finanzsenator Thilo Sarrazin im Jahr 2003 das Budget für | |
den ambulanten Kinder- und Jugendhilfebereich von 520 auf 380 Millionen | |
Euro. Artur Streit verließ die Ibef, wollte auswandern. Nachdem er aus | |
Thailand zurückgekehrt war, arbeitete er erneut als Familien- und | |
Einzelfallhelfer, mal mit fester Anstellung, mal auf Honorarbasis. Dann | |
wurde er krank, so schwer krank, dass er nicht mehr arbeiten gehen konnte. | |
Lange Zeit war er krankgeschrieben, besuchte eine Reha, bezog | |
Arbeitslosengeld und schließlich Hartz IV. | |
Heftiger Wind vor dem Willy-Brandt-Haus stößt Streits Plakat um, der hebt | |
es auf und stellt es zurück an den SPD-Würfel. Guckt es sich selbst noch | |
einmal an, seine Forderung nach einem Hartz-IV- und Grundsicherungssatz von | |
511 Euro, die ganz oben auf seiner Liste steht. Das ist der Betrag, den die | |
Hartz-IV-Kommission vor der Einführung des ALG II 2005 für ein | |
menschenwürdiges Leben berechnet hatte. „Und 14 Jahre später sind wir, | |
trotz Preissteigerung, gerade einmal bei 424 Euro angelangt.“ Und doch wäre | |
er froh, wenn er heute noch auf Hartz-IV-Niveau wäre. Vergangenen April | |
aber rieten ihm Jobcenter-Sachbearbeiter, statt Hartz IV Grundsicherung zu | |
beantragen. Ein Fehler, wie Streit jetzt weiß. Denn bis dahin durfte er | |
sich zum Regelsatz 100 Euro dazuverdienen. | |
Bei der Grundsicherung gilt diese Freibetragsregelung dagegen nicht. Streit | |
sagt, 424 reichen – „zum Überleben, nicht zum Leben.“ Bekannte von ihm | |
gingen Flaschen sammeln, die meisten arbeiteten nebenher schwarz. Er selbst | |
gibt Nachhilfe, unterrichtet Schüler*innen in Englisch, Französisch, Mathe. | |
10,23 Euro brutto verdient er pro Stunde. Das jetzt für ihn zuständige | |
Bezirkssozialamt Friedrichshain-Kreuzberg verlangt von ihm, 70 Prozent | |
seines Gewinns abzuführen. Nur drei Euro bleiben ihm. Eigentlich wollte er | |
sich von dem Geld einen neuen Computer kaufen. „Ohne wirke ich doch völlig | |
aus der Zeit gefallen. Ich muss mich informieren können“, sagt Streit. Das | |
sei jedoch „Vermögensbildung“, meint seine Sacharbeiterin. Auf taz-Anfrage | |
meldet sich diese, trotz mehrfacher Nachfrage, nie zurück. | |
Streit überlegt nun, ob er nicht doch mehr als drei Stunden am Tag arbeiten | |
könnte, oft aber geht es ihm zu schlecht. Er klemmt sein Plakat unter den | |
Arm und geht. Er hebt die schweren schwarzen Schuhe immer nur knapp vom | |
Boden und schlappt über den Asphalt. | |
Aber was wäre die Alternative? „Als Rentner weißt du, du bleibst auf diesem | |
Niveau für den Rest deines Lebens. Ein Stück Kuchen in einem Café wäre nie | |
wieder drin. Das ist unerträglich.“ | |
12 Feb 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://twitter.com/AndreaNahlesSPD/status/1092008718928134144 | |
[2] /Offene-Fragen-zur-Grundrente/!5567554 | |
## AUTOREN | |
Hanna Voß | |
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